: „Literatur ist zu jeder Zeit wichtig“
„Umso länger 1989/90 zurückliegt, umso klarer erkenne ich die Zäsur, die dieses Datum bedeutet“: Ein Gespräch mit Ingo Schulze über seinen neuen Roman „Neue Leben“, seine Schwierigkeiten, über die DDR zu schreiben, und die Möglichkeiten, sich als Schriftsteller politisch zu engagieren
INTERVIEW GERRIT BARTELS
Herr Schulze, als Sie im Juli im Literarischen Colloquium in Berlin aus Ihrem neuen Roman lasen, fand sich dort die gesamte Literaturkritik und so viel Publikum wie lange nicht ein. Man hatte den Eindruck: Hier kommt nicht nur der Autor mit dem Buch der Saison, sondern der Retter der deutschen Gegenwartsliteratur.
Ingo Schulze: Ach, das war einfach nur sehr schön. Mich hat das ermutigt, danach ließen sich die letzten Wochen Arbeit etwas leichter an. Das war so ein Durchatmen. Es gab schöne Reaktionen, zum Beispiel von meinem englischen Übersetzer John Woods, der anfangs dem Unternehmen skeptisch gegenüberstand. Wenn man so lange allein vor sich hingebosselt hat, will man wissen, wie das auf Leser außerhalb der Familie und des engsten Freundeskreises wirkt.
Spüren Sie jetzt einen sehr hohen Erwartungsdruck?
Nein, das ist doch das Beste, was einem Buch passieren kann: Dass es so erwartet wird! Ich kenne gute, gestandene Kollegen, die haben Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden. Natürlich bin ich nervös, aber das sind ja nicht die wirklichen Probleme. Wir haben bis zuletzt mit dem Manuskript gekämpft, mit Wortdopplungen, Unstimmigkeiten, Satzfehlern. Ich bin vor allem froh, dass es endlich fertig ist, das ist eine unglaubliche Erleichterung.
Warum hat es so lange gedauert? „Simple Storys“, Ihr letztes Buch, erschien vor sieben Jahren.
Ich wollte damals eine Novelle über einen 14-Jährigen in der DDR schreiben, auf 100 Seiten, mit schönen langen Sätzen und vielen Vergleichen, in einem altertümlich-bürgerlichen Tonfall, den ich gegen die DDR-Realität schneiden wollte. Ich spürte aber, dass ich gar nicht so einfach über die DDR schreiben kann, dass man das alles viel weiter fassen musste. Was ich da schrieb, bekam so etwas Postdissidentisches: Das hätte man schon 1985 so schreiben können. Ich merkte dann, dass ich den Umbruch von 1989/90 mit drinhaben wollte, die Fragwürdigkeit der DDR und die Fragwürdigkeit der heutigen Zeit.
Es hat dann drei Jahre gebraucht, um den ersten Satz von „Neue Leben“ zu schreiben“.
Ja, aber es ist nicht so, dass ich in den drei Jahren nicht an diesem Buch geschrieben habe. Aber das war praktisch für den Papierkorb. Man merkt das während des Schreibens an der eigenen stilistischen Unsicherheit. Plötzlich verfertigt man Pappmännchen. Ich hatte das Gefühl, das Schreiben verlernt zu haben. Bei den „33 Augenblicken des Glücks“ hatte ich verschiedene Autoren als Vorbilder, da sollte sich ein Stil am anderen relativieren. Bei „Simple Storys“ hatte ich diesen Short-Story-Ton, das machte die Sache einfacher. Außerdem entstanden bei beiden Büchern die Figuren aus den Situationen und den Dialogen heraus. Dieses Mal musste ich mir die Figur, diesen Enrico Türmer, seine Sichtweise auf die Welt, erst erschaffen, bevor ich überhaupt beginnen konnte.
Und da sind Sie an Ihre Bibliothek gegangen, haben diverse Briefromane entdeckt und entschieden, dass „Neue Leben“ ein Briefroman wird?
(lacht) Nein, ich wusste ja, dass dieser Enrico Türmer ein Schriftsteller werden wollte, weil im Osten niemand so wichtig war wie ein Schriftsteller. Mit dem Mauerfall wurde das anders, da wurden Schriftsteller uninteressant und Türmer wird ein rücksichtsloser Geschäftsmann, der mit seinem früheren Leben abrechnet. Dafür bot sich die Briefform an. Außerdem können Briefe auf der Rückseite alter Manuskripte geschrieben werden – sozusagen die Hoffmann’schen Makulaturblätter … Die Rückseiten waren gewissermaßen der Ausgangspunkt. Aber was sollte vorn drauf? Das wurde dann seine Entwicklung zum Geschäftsmann, damit hatte ich die größten Schwierigkeiten.
Waren die inhaltlicher oder formaler Natur?
Der Brief ist ja erst einmal unliterarisch. Man kann da nicht einfach „Romankapitel“ bauen oder Dialoge schreiben. Schwer war, ohne erzählerischen Resonanzraum zu schreiben. Erst beim Anhang merkte ich, wie leicht es ist, „Literatur“ zu schreiben, also Geschichten, Novellen. Da hatte ich die Rollen, den Stil, das Hermann-Hesse-artige der Novelle oder Türmers Versuch, à la Hemingway über die Armee zu schreiben …
In Ihrem Buch gibt es auch noch den Herausgeber Ingo Schulze, der die Briefe veröffentlicht. Dieser greift öfters mit Fußnoten ein. Er wirkt, gerade weil er so offensichtlich Ihren Namen trägt und manches richtig stellt, wie eine Warnung davor, den Roman autobiografisch zu lesen.
Für mich war immer klar, dass es ein Vorwort geben muss. Und da gab es dann die Idee mit dem Herausgeber, der einen Romanstoff sucht, dann aber die Briefe herausgibt und vielleicht später mal über Türmer einen Roman schreibt. Ingo Schulze ist hier eine Figur wie jede andere auch, man kann ihr nicht trauen, es gibt keinen Fixpunkt, nichts Absolutes. Jede Figur wird fragwürdig, jeder Figur wird der Teppich unter den Füßen weggezogen.
In „Neue Leben“ steckt aber viel Autobiografisches
Natürlich hangelt sich das Buch an meiner schmalen „Autobiografie“ entlang. Ich bin in Dresden aufgewachsen, ging in die Kreuzschule, studierte in Jena, arbeitete in Altenburg am Theater, gründete eine Zeitung, ging also selbst den Schritt von der Kunst in die Ökonomie, aus der Wortwelt in die Zahlenwelt. Und ich war im Oktober 89 auch in Leipzig. Aber Türmers Sicht auf die Ereignisse ist viel aussagekräftiger. Er war ja immer Beobachter, ich war naiv, ich hatte in Leipzig viel mehr Angst als Türmer.
Seine einzige Angst ist, dass die DDR zusammenbricht und er nicht weiß: Was soll ein Schriftsteller ohne Mauer?
Ja, er hofft, dass die Polizei, die Armee, endlich zuschlägt und er wieder in seine komfortable Widerstandshaltung kommt. Er wollte in den Westen, aber nicht zusammen mit Millionen anderen, sondern so wie Wolf Biermann. Auch er wollte mit seinem Schreiben den Staat erschüttern. 1989/90 brachte für Künstler und Intellektuelle einen ungeheuren Bedeutungsverlust. Der Kalte Krieg, die Konkurrenz der Systeme war vorbei. Jetzt brauchte es keiner mutigen Worte mehr, jetzt mussten die Zahlen stimmen – so schien es zumindest. Als wir 1990 in Altenburg die Zeitung gründeten, konnten wir das gut sehen: Man will die Demokratie befördern und plötzlich ist man bloß Unternehmer, der zusehen muss, dass er das Geld für die nächste Ausgabe zusammenbekommt.
Wie gehen Sie als Schriftsteller mit diesem Bedeutungsverlust um?
Ich war ja in der DDR nicht Schriftsteller, und ich bin 1990 Geschäftsmann geworden. Literatur ist immer und zu jeder Zeit wichtig, das sage ich als Leser. Wir sprechen hier von dem Stellenwert, die Literatur/Kunst in der Gesellschaft hat. Und da tut es ihr eher gut, wenn sie am Rand ist und keine Ersatzfunktionen übernehmen muss.
Wie halten Sie es persönlich mit politischem Engagement?
Das fällt mir schwer, obwohl ich es gern möchte. Der Kosovokrieg war für mich ein Einschnitt, der hat mich repolitisiert. Bis dahin fand ich, vertraten Grüne und SPD ganz gut, was wir wollten und was nicht. Aber als Außenminister Fischer mit dem Auschwitz-Vergleich anfing, man Bomben auf Belgrad warf und die Kosovaren ihrem Schicksal überließ und an der Grenze wartete, bis Milošević einlenkte, ohne eine Ahnung zu haben, was danach passieren sollte – da fühlte ich mich mitverantwortlich, weil ich diese Regierung ja mitgewählt hatte. Ich habe versucht, mich in Zeitungsartikeln zu artikulieren. Auch zu Afghanistan, zum Irak. Diese Artikel sind keine Meisterleistungen, aber wenn man gedruckt werden kann, sollte man sich auch artikulieren.
Wie gehen Sie damit um, als Schriftsteller der Wende zu gelten?
Ist das so? „Simple Storys“ spielen ja in der Zeit danach, die „33 Augenblicke“ ebenfalls. Aber klar, ich bin Jahrgang 1962, komme aus dem Osten, habe diese Umbruchzeit miterlebt. Und für mich wird 1989/1990 zu einem immer wichtigeren Datum. Umso länger das zurückliegt, umso klarer erkenne ich die Zäsur, die es bedeutet. Und mit jeder neuen Erfahrung ändert sich natürlich auch die Sicht auf die Vergangenheit, manche Konturen werden schärfer.
Welche?
Die Schwierigkeit ist, dass die DDR ja einem einfach die Wahlmöglichkeit nahm, man konnte sich auch nicht für sie entscheiden. Das machte sie indiskutabel. Und die Schwierigkeit ist, nichts zu relativieren und es doch gleichzeitig in Zusammenhänge zu stellen.
Aber woher rührt dann die Ostalgie allerorten?
Die kommt wohl daher, dass heutige Alltagssorgen wie Arbeitslosigkeit, Konkurrenz- und Existenzkampf unbekannt waren oder eben nicht dieses Ausmaß hatten. Natürlich blendet man dann die Schattenseiten aus. Ich war vor anderthalb Jahren im Gefolge von Günter Grass im Jemen. Bei einem Ausflug waren da ein paar traditionell gekleidete Leute dabei, über die hieß es: „Mit denen könnt ihr nicht reden, die können kein Englisch“. Die konnten aber Russisch, die waren aus dem ehemals sozialistischen Südjemen und hatten in Wolgograd und Leningrad studiert. Plötzlich also kam die Erfahrung des Südjemens dazu, eine Analogie der Erfahrung, die ja von Ostdeutschland aus gesehen eben nicht in Ost- und Mitteleuropa endet. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem Westen vor einem Hintergrund, der irgendwie sozialistisch gewesen ist, das trifft für die Chinesen zu, für die Inder, die Ägypter, für viele Afrikaner. In diesen Zusammenhang würde ich „Neue Leben“ gern stellen, denn dann merkt man, dass das eben längst nichts Erledigtes ist.
Sie glauben also, dass wir ständig damit beschäftigt sind herauszufinden, in was für einer Zeit wir leben?
Ja, diese neue Weltordnung seit 1990 bekommt ja erst allmählich ihre Konturen und stößt auch an Grenzen. Da fragt man sich: Wie verträgt sich eine gewinn- und wachstumsorientierte Gesellschaft mit dem Allgemeinwohl und der Ökologie. Wem kommt der technologische Fortschritt zugute. Jetzt werden in der Öffentlichkeit wieder Fragen gestellt, die in den Neunzigerjahren kaum gehört worden wären. Boris Groys warnt davor, den Sozialismus als eine Episode, einen Unfall abzutun, dann lande man in der Vormoderne, in den Nationalismen, Fundamentalismen, nehmen Sie Jugoslawien oder einige arabische Staaten. Man muss es auch als eine Form der Modernisierung begreifen. Aber stopp: Ich verliere mich hier jetzt, ich wollte ja über Enrico Türmer reden, auch wenn das alles mit ihm zu tun hat.
Sie haben einmal gesagt, Ihre Themen wären beschränkt: Wendezeit, die Zeit der DDR, die Armee, Sie müssten immer nah dran sein. Haben Sie sich mit „Neue Leben“ davon frei geschrieben?
(lacht). Ja und nein. Ende der Neunzigerjahre dachte ich noch, dass ich verschiedene Bücher schreiben sollte. Dann habe ich gemerkt: Das gehört alles zusammen. Ich hoffe aber, dass der Herausgeber seinen Roman über Türmer noch schreibt, dass es weitergeht und aus „Neue Leben“, auch wenn das großkotzig klingt, eine Trilogie wird. Aber jetzt will ich erst mal nichts machen und dann vielleicht etwas Kleineres probieren, eine Novelle oder so. (lacht) Aber das habe ich vor sieben Jahren ja auch behauptet.