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Archiv-Artikel

Der Tod ist keine Bagatelle

Die Zahl der HIV-Infektionen in Deutschland im ersten Halbjahr 2005 ist um ein Fünftel gestiegen.Ein Grund dafür: immer bessere Medikamente verführen zu Unvorsicht und Selbstüberschätzung

VON JAN FEDDERSEN

Das Robert-Koch-Institut steht keineswegs unter dem Verdacht, eifernd alarmierend Jahr für Jahr den Teufel an die Wand zu malen. Insofern muss ernst genommen werden, was dieses Institut, oberste wissenschaftliche Infektionsbeobachterin der Republik, zu sagen hat. In diesen Tagen lautet der Befund, dass mit 1.164 registrierten Infektionen mit dem zur Immunschwächekrankheit Aids führenden HI-Virus im ersten Halbjahr 2005 die Quote der Neuinfektionen um ein Fünftel im Vergleich mit dem Vorjahr zugenommen habe.

Das muss jedoch tatsächlich alarmieren, denn Aids ist keine Bagatelle. Zwar führt eine Ansteckung mit dem HI-Virus dank neuerer Medikamente nicht allein zum Tod – aber ein Leben mit ihm ist stets mit gesundheitlichen Einschränkungen verbunden. War Aids anfangs der Achtziger noch als „Schwulenseuche“ diffamiert, die den Immunsystemcrash auf die Homosexualität der mit seinem Virus Infizierten zurückführte, lernte die überraschend mitfühlende westliche Welt, Aids kühler wahrzunehmen. Als eine Viruserkrankung, die durch ungeschützten Sexualverkehr übertragen werden kann. Das Wort Kondom ist seither ein öffentlich sagbares geworden. Ein Zaubermittel, wie man inzwischen weiß: Denn Aids ist, medizinisch gesehen, schwer übertragbar. Das Virus ist in gefährlicher Konzentration im Blut vorfindlich – und im Sperma. Ein Gummi schützt.

Der Erfolg der nicht auf Strafe und Drohung setzenden Gesundheitspolitik blieb in der westlichen Welt nicht aus: Die Infektionsraten schnellten nicht in eine demografisch messbare Höhe; Aids gilt als Krankheitsbild, dessen man sich fast unaufgeregt widmen kann. Seit Mitte der Neunziger gibt es obendrein Medikamente, die den Ausbruch von Aids unterdrücken – und die Pharmaindustrie tut das Ihre, um in Annoncen in Homomagazinen zu suggerieren, es ließe sich trotz HIV-Infektion ein normales Leben führen.

Allein: Die Entwicklung stimulierte auch einen Hochmut – und zwar gerade unter jener Gruppe, die das Gros der Aidskranken stellt, den schwulen Männern nämlich. Bedeutete eine HIV-Infektion noch Ende der Achtziger das Wissen um einen sicheren, qualvollen, vor allem baldigen Tod, ist dieses Bewusstsein verschwunden: Man vögelt häufiger wieder ohne, auch bei One-Night-Stands oder bei flüchtigen Kontakten in Saunen oder Darkrooms schwuler Kneipen. Die Zahl, die gestern das Robert-Koch-Institut nannte, fällt zwar, gemessen an der (überwiegend heterosexuell begründeten) Aidsepidemie in der unteren Hälfte Afrikas, gering aus. Mit knapp 1200 Fällen im ersten Halbjahr ist die Bilanz eher mager. Aber, so Reinhard Kurth, Präsident des Robert-Koch-Instituts: „Die Entwicklung bei diesen vermeidbaren Infektionen gibt Anlass zur Sorge.“ Die höchsten Raten neu diagnostizierter HIV-Infektionen werden nach seinen Angaben in der Altersgruppe der 25- bis 45-jährigen Männer beobachtet. Genauer gesagt: in der Gruppe der schwulen Männer, die ihr Coming-out hinter und die sexuell weniger prominente Phase des Alters noch vor sich haben.

Auffällig ist, dass diese Gruppe durch weitere Informationsarbeit nicht erreichbar sein kann: Wer um das Risiko nicht weiß, will es nicht wissen, denn die Kondompropaganda kam in den vergangenen 20 Jahren einer Gehirnwäsche gleich. Möglicherweise ist Hybris der Grund für die Risikofreude vieler Schwuler: als Chance zum letzten Kick, als Idee des absolut Unerlaubten. Sex als kleiner Tod: ein gerade unter Schwulen populäres Phantasma – das damit zu tun haben mag, dass sie keine Verantwortung für Familiäres oder Partnerschaftliches mitdenken wollen oder können: ein Knäuel aus Einsamkeit fehlender familiärer Netze wegen und aus Selbsthass.

Barebacking gilt als letzter Schrei (nicht nur) in der Hauptstadt. Das, so übersetzt, sattellose Ficken: Sex ohne Kondom als Versuch, das Moment des Todes wieder in die Sphäre des Orgastischen zu holen. Strafbar machen sich HIV-Infizierte nicht, wenn sie ihre Sexualpartner nicht darüber in Kenntnis setzen, dass sie HIV-infektiös sind – die Freiheit ist auch eine des Nichtwissens und des Risikos im Augenblick der sexualisierten Zuspitzung. Wie die Politik mit diesem Phänomen umgehen wird, ist offen: Möglich, dass Neuinfizierte in der Solidargemeinschaft „mitgeschleppt“ werden – möglich allerdings auch, dass man, bei Nachweis des Besuchs von riskanten Orten, auf die Bezahlung der Medikamente verzichten möchte. Der Tod ist keine Bagatelle: Schwule Männer können das wissen – auch beim Sex.