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Archiv-Artikel

Auf dem falschen Trip

In Deutschland gibt es derzeit fast alle Zutaten, die man für hohes Wachstum braucht – nur eine einzige extrem gewichtige fehlt: eine kräftig steigende Binnennachfrage

Wer nun eine große Koalition bildet, muss die Programme von SPD und Union in den Papierkorb werfen

Die Bundestagswahl enthält immerhin eine Botschaft: Deutschland kann nicht einfach so weitermachen wie in den letzten 25 Jahren. Wer nun eine große Koalition bilden will, muss die Parteiprogramme von SPD und Union in den Papierkorb werfen. Die krampfhaften Versuche, Schnittmengen aus den gescheiterten Programmen zu bilden und dies zur Basis einer Regierung zu machen, sind absurd.

Da die Arbeitslosigkeit im Zentrum des Interesses der Wähler stand und steht, muss eine radikal neue Programmatik hier ansetzen. Aus der erfolglosen Politik von Rot-Grün und dem abgelehnten Programm von Schwarz-Gelb lassen sich ohne weiteres einige Grundpfeiler der neuen Regierungsarbeit ableiten.

Erstens, die große Herausforderung der Globalisierung sollte aus allen Programmen verschwinden. Ein Land wie Deutschland, das weit mehr Güter exportiert, als es importiert, ist nicht vom globalen Markt bedroht. Im Gegenteil, Deutschland bedroht mit seinen exorbitanten Exporterfolgen die Stabilität des Welthandels und der Europäischen Währungsunion. Es ist das Land mit dem zweithöchsten Leistungsbilanzüberschuss auf der Welt – mit 100 Milliarden Dollar deutlich höher als der chinesische und nur übertroffen vom japanischen.

Zweitens, Steuerpolitik ist eine Daueraufgabe jeder Regierung, aber es gibt keinerlei Notwendigkeit, den vielen „Jahrhundertreformen“ der letzten zwei Jahrzehnte in der nächsten Legislaturperiode eine weitere folgen zu lassen. Niemand braucht eine Bierdeckel-Steuer. Es ist in der modernen, hochkomplexen Gesellschaft nicht der Steuertarif, der das Abgabensystem kompliziert macht, sondern es ist die Frage, was denn das wirklich verdiente Einkommen eines Menschen ist. Welche Kosten darf er geltend machen, bevor sein Gewinn ermittelt wird, welche Einkommen werden überhaupt zur Besteuerung herangezogen, wo und wie werden Einkommen besteuert, deren Herkunft in verschiedenen Ländern oder verschiedenen Zeitphasen zu suchen ist? Das heißt, die zentralen Fragen des Steuerrechts haben mit dem Steuertarif als solchem und mit dem Bierdeckel überhaupt nichts zu tun.

Drittens, die Alterung muss zwar den Rang erhalten, den sie verdient, aber nicht mehr. Wann immer man die große Bedrohung heraufziehen sieht, es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Folgen der Alterung nur mit mehr Wachstum und einem Abbau der Arbeitslosigkeit abzumildern sind. Individuelle Lebensarbeitszeitverlängerung, bessere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt oder Zuwanderung von jungen Menschen – alles funktioniert nur, wenn Deutschland das Problem der Arbeitslosigkeit, anders als in den vergangenen drei Jahrzehnten, in den Griff bekommt. Finanzierungstricks wie die Kapitaldeckung der Rente können an den grundlegenden Zusammenhängen nichts ändern und dürfen getrost ignoriert werden.

Viertens, die Arbeitslosigkeit lässt sich nur mit mehr Wachstum reduzieren. Alles andere sind schöne grüne Träume, gehören aber nicht in ein Regierungsprogramm. Kein Land der Welt hat es jemals geschafft, nach einer Wachstumskrise mehr und bessere Jobs ohne neues Wachstum zu schaffen. Natürlich muss dieses Wachstum ökologisch abgesichert sein. Es spricht aber alles dafür, dass man bei einer guten wirtschaftlichen Entwicklung mehr Umweltschutz durchsetzen kann als bei einer schlechten.

Fünftens, hohes Wachstum gibt es nur mit hoher Produktivität, also mit hohen Investitionen. Die im linken Lager häufig anzutreffende Angst vor der Arbeitsplätze vernichtenden Produktivität ist genauso dumm wie die Angst vor dem Wachstum als solchem. Nur mit höherer Produktivität können die Menschen ihre Lebensbedingungen verbessern, quantitativ wie qualitativ. Steigende Produktivität vernichtet keine Arbeitsplätze, sondern schafft das Potenzial für steigende Einkommen, die neue Jobs entstehen lassen.

Sechstens, Wachstum ist nicht mit Klein-Klein, Bürokratieabbau oder Deregulierung der Arbeitsmärkte zu erreichen. In Deutschland gibt es derzeit fast alle Zutaten, die man für hohes Wachstum braucht – nur eine einzige extrem gewichtige fehlt: eine kräftig steigende Binnennachfrage. Die Gewinne der deutschen Exportunternehmen sind im vergangenen Jahr explodiert, weil die Erlöse aus dem ebenfalls explodierenden Exportüberschuss fast vollständig zu ihren Gunsten gingen. Die Investitionsreaktion ist dennoch nur schwach, weil der private Verbrauch nicht angesprungen ist. Das zeigt einerseits, dass Steuersenkungen für Unternehmen vollkommen fehl am Platz sind – zumal, wenn sie aus Subventionsabbau oder Steuererhöhungen an anderer Stelle gegenfinanziert sind. Das zeigt andererseits, dass staatliche Konjunkturprogramme derzeit nichts bewirken können, weil der Exportschub schon ein gigantisches Konjunkturprogramm war – das verpuffte.

Ein erfolgreiches Exportland wie Deutschland ist nicht vom globalen Markt bedroht

Siebtens, es gibt derzeit nur ein einziges Mittel, die Binnenkonjunktur zu beleben. Das ist die Rückkehr zu einer Lohnpolitik, die in Deutschland über 45 Jahre selbstverständlich war, die aber Mitte der 90er-Jahre auf Druck der Politik im Zuge des Globalisierungswahns aufgegeben wurde. Deutschland muss nun, wiederum mit Hilfe der Politik, zurück zu einem System der Lohnfindung, in dem die volle Beteiligung der Arbeitnehmer an den Zuwächsen der Produktivität eine Selbstverständlichkeit ist. Der Lohnverzicht der vergangenen zehn Jahre hat zwar den übermäßigen Exporterfolg begründet, hat aber die wichtigere Binnenkonjunktur zum Erliegen gebracht.

Die deutschen Politiker müssen begreifen, dass die Prognose des typisch deutschen Sachverständigen, dass nämlich der Lohnverzicht wegen seiner positiven Auswirkung auf die Beschäftigung gar keine Auswirkung auf die Binnennachfrage haben könne, schlicht falsch war. Die Masseneinkommen, die alle Einkommen der Nichtselbstständigen und die Beschäftigung enthalten, stellen mit einer Billion Euro im Jahr die mit Abstand wichtigste gesamtwirtschaftliche Größe dar. Genau sie sind etwa im ersten Halbjahr 2005 nominal um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Das hat es in Deutschland und in anderen Ländern (außer Japan) vorher 50 Jahre lang nicht gegeben. Die Reallöhne sind weit hinter dem Produktivitätszuwachs zurückgeblieben, die Beschäftigung hat aber nicht reagiert. An dieser Stelle kann die CDU getrost Ludwig Erhard wiederbeleben. Ohne massive Lohnzuwächse hätte es das deutsche Wirtschaftswunder nicht gegeben.

Deutschland braucht also eine Rückkehr zur Wirtschaftspolitik. Nicht Klein-Klein und das Nachbeten von „Reformlisten“ der Lobbyisten ist angesagt, sondern ein neuer Ansatz nach sechzehn erfolglosen Jahren in Schwarz-Gelb und sieben kläglichen Jahren in Rot-Grün. Käme es dazu auch nur in Ansätzen, wäre das Wahlergebnis das Beste gewesen, was Deutschland passieren konnte. HEINER FLASSBECK