piwik no script img

Archiv-Artikel

Sonderwohlfahrtszone Ost

Am 3. Oktober jährt sich zum 15. Mal der Tag der Deutschen Einheit. Wer keine Wählerstimmen zu verlieren hat, ist bereit zuzugeben: Diese Einheit ist gescheitert, und einen Aufschwung Ost wird es niemals geben. Was also soll man machen? Ein Plädoyer für mehr Mut, sich auf Experimente einzulassen

VON UWE RADA

Wenn sich am 3. Oktober zum 15. Mal der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland jährt, wird allenthalben wieder Bilanz gezogen. Noch-Ostminister Manfred Stolpe wird die Erfolge der deutschen Einheit loben, auch wenn diese noch nicht vollendet sei. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck wird auf seinen Politikwechsel hinweisen, sich künftig auf die Wachstumskerne des Landes konzentrieren, auch wenn dieser Wechsel in den Mühen der Ebene ins Stocken gekommen ist. Und alle zusammen werden Politiker und Unternehmer davor warnen, die Fördergelder für den Osten in Frage zu stellen. Ohne Geld aus dem Westen, so geht das nun schon seit 15 Jahren, kein Aufschwung Ost.

Dabei ist längst klar: Dieser Aufschwung kommt nicht mehr. Die ihn mit ihrem Know-how und ihrem Engagement bewerkstelligen können, sind längst im Westen, der Rest „verödet und verblödet“, wie es der Soziologe Ulf Mathiesen einmal drastisch formuliert hat. Außer einigen „Leuchttürmen“ wie in Leipzig, Dresden oder Jena sind die ostdeutschen Regionen von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt, und zwar auf Dauer. Mitten in Europa ist damit ein deutscher Mezzogiorno entstanden, ohne dass die politisch Verantwortlichen auf die Herausforderungen, die sich daraus ergeben, vorbereitet wären.

Warum aber nicht in diese Lücke stoßen und im Osten probieren, was im Westen nirgends möglich wäre. Warum nicht das Wort vom „Osten als Avantgarde“ ernst nehmen und mutig vorangehen? Dass im Osten die Uhren anders schlagen, ist bekannt: Gegen den Mainstream aus dem Westen fordern ostbrandenburgische Bürgermeister die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte für Bürger aus den neuen EU-Ländern. Selbst für PDS-Politiker ist eine Sonderwirtschaftszone nichts Unanständiges, sondern eine letzte Chance mehr.

Sonderzone ist der Osten tatsächlich: politisch (Wahlverhalten), wirtschaftlich (hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne), kulturell und historisch. Sonderzone werden weite Teile Ostdeutschlands auch, wenn sich das Förderparadigma Wachstumskerne zwischen Rügen und Erzgebirge durchsetzen wird. Dann wird es Regionen geben, aus denen sich der Staat mit seinen Fördermitteln zurückzieht, Regionen, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch abgehängt, ja sogar sich selbst überlassen werden.

Bevor es so weit ist, sollten sich die Verantwortlichen Folgendes überlegen: Warum nicht eine Zeit lang in einem begrenzten Gebiet die Fördergelder in der bisherigen Höhe weiter gewährleisten, sie vor Ort aber nicht zum Bau beleuchteter Kuhwiesen benutzen, sondern ihren Einsatz den Bürgern überlassen? Warum nicht die Bewohner einer Stadt oder Kommune aus der kommunalen Hoheit von Bund und Land entlassen und ihnen die Möglichkeit geben, ein Gemeinwesen nach eigenen Vorstellungen und Regeln aufzubauen? Warum nicht, wenn es keine teuren Kreisabgaben oder Beamtenpensionen mehr zu zahlen gibt, ein Bürgergeld einführen, das deutlich höher ist als Hartz IV? Warum nicht darauf vertrauen, dass soziale Sicherheit die Menschen aktiviert, anstatt sie in die Hängematten zu treiben?

Und warum nicht auf der anderen Seite deregulieren? Warum nicht den Kündigungsschutz abschaffen und die Tarifbindung? Warum nicht auf die Dynamik einer Sonderwirtschaftszone hoffen, die etwa in Polen längst Wachstum gebracht hat. Eine solche Mischung aus Wohlfahrts- und Wirtschaftszone, also eine Sonderwohlfahrtszone, wäre 15 Jahre nach der Einheit ein Signal, dass man angesichts des gescheiterten Aufschwungs Ost bereit wäre, neue Wege zu gehen und das Wort vom Laboratorium ernst zu nehmen. Und es wäre eine Synthese des alten mit dem neuen Europa, zwischen rheinisch-kapitalistischer Sicherheit und osteuropäischem Tigerkapitalismus, die Synthese mithin der beiden kulturellen Lager, die sich in Deutschland gegenüberstehen: das der Bewahrer und das der Veränderer.

Die polnische Deutschlandkennerin und Leiterin des Westinstituts in Posen, Anna Powieska-Wolff, hat den ostdeutschen und polnischen Weg in den Kapitalismus einmal so formuliert: Die Polen seien zwar arm, aber mit einem Gewinn an Souveränität aus der Transformation hervorgegangen, die Ostdeutschen dagegen mit Milliarden an Transfergeldern, aber einem Verlust an Souveränität. Der Mut zu Experimenten ist somit ein Beitrag dazu, was im Osten nach dem Eingeständnis des Scheiterns auf der Tagesordnung stehen müsste: das Ringen um ein Mehr an Souveränität. Gedankenspiele wie das einer Sonderwohlfahrtszone Ost gehören dazu ebenso wie die Debatte um Schrumpfung oder die Zukunft nach dem Ende der Erwerbsarbeit.

Das Projekt „Sonderwohlfahrtszone“ von Jesko Fezer, Stephan Lanz und Uwe Rada ist Teil des Initiativprojekts „Shrinking Cities“ der Kulturstiftung des Bundes