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Archiv-Artikel

„Ich halte die Linkspartei für einen Segen“

Eine CDU-geführte Regierung wird das fortsetzen, was Gerhard Schröder angefangen hat: die Deformation des Sozialstaats und die Entsolidarisierung. Ein Drittel der Bevölkerung ist im Parlament gar nicht mehr repräsentiert

taz: Herr Hengsbach, denken Sie mit Schrecken daran, dass die Partei mit dem C im Namen höchstwahrscheinlich die Bundestagswahl gewinnen wird?

Friedhelm Hengsbach: Ja, und wenn sie zusammen mit der FDP die Wahlen gewinnt, dann werde ich den Atem anhalten. Wenn man sich die Wahlprogramme und die handelnden Personen ansieht, muss man sagen, dass sie sich weit davon entfernt haben, was die Kirchen 1997 als einen ganz zentralen Maßstab für eine soziale Marktwirtschaft angesehen haben: den sozialen Ausgleich. Davon ist bei Schwarz-Gelb kaum mehr was zu spüren.

Was erwartet uns mit der Union?

Eine Verschärfung dessen, was schon unter Schröder angefangen hat: die Deformation des Sozialstaats und die Entsolidarisierung. Die Union will die Tarifautonomie lockern, den Kündigungsschutz aushöhlen, die Rechte der Gewerkschaften einschränken. Sie wird noch stärker auf private Vorsorge setzen, auf Eigenverantwortung und Eigeninitiative – auch gegen gesellschaftliche Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Altersarmut.

Die sozialen Sicherungssysteme stecken wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der demografischen Entwicklung in der Krise, ihre Finanzierung funktioniert nicht mehr.

Wenn die ununterbrochene Erwerbsbiografie nicht mehr vorausgesetzt werden kann, sind natürlich alle Sicherungssysteme brüchig, die an die Erwerbsarbeit gekoppelt sind.

Dann braucht es doch eine grundsätzliche Reform.

Ja, aber diese Reform ist von Schwarz-Gelb nicht zu erwarten; auch Rot-Grün hat nur den solidarischen Anteil zurückgeschraubt und die private Vorsorge erweitert.

Was müsste geschehen?

Man muss die Wertschöpfung zur Grundlage der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme machen, also alle Einkommen berücksichtigen. SPD und Grüne nennen das Bürgerversicherung.

Das heißt, Rot-Grün ist wieder auf dem richtigen Weg?

Die SPD hat im Wahlprogramm eine leichte Korrektur angedeutet. Einmal mit dem Hinweis auf die politische Steuerung der Finanzmärkte, und sie will auch die Binnennachfrage durch öffentliche Investitionen stärken. Zum Beispiel im Bildungsbereich, also bei personenbezogenen Diensten. Das ist Arbeit am Menschen, das ist entscheidend. Die Grünen betonen all das noch stärker, man könnte fast glauben, sie sind konvertiert.

Und glauben Sie das?

Das kann ich nur zum Teil. Immerhin haben die beiden Parteien sieben Jahre lang regiert. Aber was immer jetzt kommt, es gibt Grenzen einer Demontage des Sozialstaats.

Derzeit sieht es aber eher so aus, als würde es künftig noch dicker kommen.

In der Bevölkerung ist die Zustimmung zur solidarischen Sicherung sehr hoch – daran werden auch die Parteien gemessen.

Aber nach allen Umfragen wird eine Mehrheit der Deutschen am Sonntag solche Parteien wählen, die genau diese Sicherung aufweichen wollen.

Das sind genau die zwei Drittel der Bevölkerung, die derzeit auch von den Parteien im Parlament repräsentiert werden. Die Agenda-Politik der SPD war nur möglich mit einem Parlament, das das untere Drittel der Bevölkerung gar nicht repräsentiert. Widerstandspotenziale, die bislang über Montagsdemonstrationen, über Attac und regionale Gewerkschaftsaktivitäten zum Ausdruck kamen, werden aber wieder im Parlament vertreten sein.

Das heißt, Ihre Hoffnung ruht auf der Linkspartei.

Ich halte die Linkspartei für einen Segen, weil sie Schröders Agenda-Politik an Grenzen stoßen lässt.

Kritiker halten die Sozialpolitik der Linkspartei für realitätsfern und von gestern.

Die soziale Marktwirtschaft ist keine Sache von gestern.

Gibt es auch noch jemanden in der CDU, auf den Sie hoffen?

Im Wahlprogramm der CDU gibt es nichts mehr, was der christlichen Soziallehre entspricht. Das war ein längerer Prozess. Wenn man die nordrhein-westfälische CDU unter Arnold …

dem ersten Ministerpräsidenten in NRW …

… mit dem vergleicht, was da heute Hauptströmung ist, dann sind diese sozialen Potenziale verdampft.

Wenn es in der Union keine – in Ihrem Sinn – richtigen Sozialpolitiker mehr gibt, was sind dann Ursula von der Leyen und Peter Müller aus dem Kompetenzteam der Union?

Die Personen, die in der Union für den sozialen Ausgleich standen, sind an den Rand gedrängt: Seehofer, Blüm und Geißler. Natürlich sind sie auch vom Alter her überholt, aber es ist eben auch nichts nachgewachsen. Für die Neuen ist Solidarität nachrangig. Sie setzen auf die Eigeninitiative des bürgerlichen Teils der Bevölkerung, aus dem sie selbst kommen und der finanziell abgesichert ist. Zudem haben sie kein Gewicht gegenüber Merkel, Kirchhof und Merz. Das kann man ja im Wahlprogramm sehen.INTERVIEW: SABINE AM ORDE