: Ideale Verbündete
Leer wie ein platt gerodetes Maisfeld: In „Broken Flowers“ gehen der Zen-Buddhismus-Flirt von Jim Jarmusch und der stoische Minimalismus von Bill Murray die schönste Verbindung ein. Sie spenden Trost den vielen, die alles im Leben verpasst haben, und huldigen dem schwerelosen Augenblick
VON DIETMAR KAMMERER
Ein filmhistorischer Zufall – oder ein geschickt kaschiertes Strippenziehen der Festivaldirektoren von Cannes – hatte es in diesem Jahr so arrangiert, dass Jim Jarmusch und Wim Wenders nicht nur ihren jeweils neuesten Film an der Croisette vorstellten. Beiden Werken liegt auch praktisch dieselbe Plotidee zugrunde: Allein stehende Männer jenseits der Mitte ihres Lebens erfahren, dass sie wahrscheinlich ein erwachsenes Kind haben, und sie begeben sich auf der Suche nach Antworten auf eine längere Reise durch die USA. In beiden Filmen spielt Jessica Lange eine wichtige Nebenrolle. Und beide Filme werden von den Kommentatoren, selbst beim erst knapp fünfzigjährigen Jarmusch, als „Alterswerke“ der Regisseure behandelt. Beide gelten seit Jahrzehnten als Säulenheilige des Independent-Films und werden als Vorposten des europäischen Cinéma im Feindesland amerikanischer Movies gehandelt. Doch damit endet auch schon die Liste der Gemeinsamkeiten zwischen „Don’t come knocking“ und „Broken Flowers“.
Wenders’ sehnsüchtiger Blick auf die Americana (Wüstenstaub, Westernfilme), auf die leer gewordenen Versprechen von Freiheit, die dennoch weiter beschworen werden müssen in hypnotisch schönen Edward-Hopper-artigen Bildtableaus könnte nicht weiter entfernt sein vom ästhetischen Repertoire und der erzählerischen Dramaturgie eines Jim Jarmusch. Wo bei Wenders jede Einstellung ein mythisches Amerika als das „wahre“ evozieren soll, hat Jarmusch sich alle erdenkliche Mühe gegeben, jeglichen Bezug auf ein reales Territorium oder wiedererkennbare landschaftliche Merkmale zu tilgen, jegliche Charakteristik zu nivellieren. Das reicht bis zu gefälschten Autokennzeichen und nichtexistenten Postleitzahlen auf Briefumschlägen. Die Wohnhäuser und Inneneinrichtungen sehen aus wie überall, manchmal verwahrloster, manchmal teurer, dann meistens geschmack- und seelenlos. Ansonsten spielt sich der Film zwischen Mietwagen, Hotelzimmern und Flughafenwartehallen ab. Nicht in Amerika, in „Generica“ spiele der Film, haben der Regisseur und seine Ausstatter während der Dreharbeiten gewitzelt.
Damit hat Jarmusch tatsächlich so etwas wie Neuland für sich betreten. Zeichneten sich seine bisherigen Filme doch gerade dadurch aus, dass sie in ihrer Zelebration des Abwegigen, ihrer Vorliebe für die abgelegenen Ecken und die toten Winkel gerade immer an konkret bestimmbaren Orten spielten. Jarmusch war immer ein Regisseur des Urbanen, selbst in „Dean Man“, der vom Vorrücken der Grenze der Städte, von der Zivilisierung erzählte. Die Städte waren wie eigenständige Persönlichkeiten in seinen Filmen: immer wieder natürlich New York, aber auch Memphis, Tennessee („Mystery Train“), New Orleans oder Rom, Paris, Los Angeles, Helsinki in „Night on Earth“.
Gleichzeitig hat er seine Locations aufgelöst, sie in austauschbare Nichtorte verwandelt: „Komisch, man kommt in eine neue Stadt, und alles sieht genau gleich aus“, kommentiert Eddy in „Stranger than Paradise“ das Dilemma des Fortwollens und Doch-nicht-weit-Kommens, das Schicksal vieler Figuren in Jarmusch-Country. In „Down by Law“ irrlichtern die drei flüchtigen Strafgefangenen in den Sümpfen um New Orleans so lange im Kreis herum, bis sie eine Hütte finden, die aufs Haar der Zelle gleicht, der sie mühevoll entflohen sind. In seinem letzten Langfilm „Ghost Dog“ war Jersey City schon bereits einigermaßen schwer auszumachen, aber immerhin noch eine benennbare Stadt.
Für „Broken Flowers“ schickt Jarmusch seinen Helden nun durch eine weitgehend gesichtslose Landschaft. Am Tiefpunkt seiner Reise wacht Bill Murray inmitten eines apokalyptisch anmutenden, völlig platt gerodeten Maisfeldes auf. Begonnen hatte die ganze Unternehmung mit einem geheimnisvollen Brief einer der vielen ehemaligen Geliebten an Murray, einen alternden, allein stehenden Don Juan – Jarmuschs notorische Vorliebe für wenig subtile Namensspiele hat ihn sinnigerweise „Don Johnston“ getauft –, worin die anonym bleibende Briefschreiberin ihm eröffnet, dass sie vor zwanzig Jahren nach ihrer Trennung von ihm schwanger war und einen Sohn bekam. Der sei nun losgezogen, womöglich auf der Suche nach seinem Vater. Kein Absender, keine Unterschrift, der Poststempel unleserlich.
Für Don, der eigentlich nichts lieber tun würde, als weiterhin apathisch in Fred-Perry-Trainingsanzügen auf seiner Ledercouch zu sitzen und den ausgeschalteten, superteuren Flachbildschirm anzustarren, beginnt eine Reise in die eigene Vergangenheit. Vielleicht hat Jarmusch, der gerne versteckte literarische Bezüge einbaut, beim Verfassen des Drehbuchs die Höllenkreise von Dantes „Göttlicher Komödie“ im Sinn gehabt: Mit jeder Etappe schickt er seinen Protagonisten in tiefere Abgründe, bis er schwer ramponiert an Frisur und Anzug wieder zurückkehrt. Schon die Station bei der ersten seiner Verflossenen (Sharon Stone) birgt ungeahnte Versuchungen, als deren frühreife Tochter splitterfasernackt vor ihm durch die Wohnung paradiert.
Im Weiteren wird Murray mit einem wahren Panoptikum an Höllenstrafen des verpassten Lebens konfrontiert: das Schattenreich zwanghaft glücklicher Ehezombies, die vorfabriziertes Designer-Food in vorfabrizierten Designer-Häusern zu sich nehmen; das ewige Martyrium der Psychotherapie für Kleintiere; die faulige Verdammnis eines Lebens unter halbdebilen Hillybillys mit Bauchansatz, die ständig ölverschmiert an ihren Motorrädern herumschrauben.
Mit jedem anderen Darsteller als Bill Murray wäre das Pathos einer solchen Geschichte sofort ins Unerträgliche geschnellt. Aber Murray erweist sich einmal mehr als Meister eines mimischen Minimalismus, der noch die geringste Gestik so weit zurückschrauben kann, dass ein Zucken am Mundwinkel genügt, um Welten auszudrücken. Oder gerade nichts auszudrücken, alle Vermutungen über die potenziellen Pegelstände seines Innenlebens ins Leere laufen zu lassen.
Wie sehr er die Paradoxien und philosophischen Leerläufe des Zen-Buddhismus schätzt, hat Jarmusch bei mehr als einer Gelegenheit betont. In dem ehemaligen „Saturday Night Live“ und „Ghostbusters“-Star Murray, der seit Filmen wie „Rushmore“, „Lost in Translation“ oder „Die Tiefseetaucher“ einen zweiten Karrierefrühling erlebt, scheint er den idealen Verbündeten für sein Projekt der ästhetischen Reduktion der Filmsprache gefunden zu haben. Ein ökonomisches Prinzip: mit möglichst wenig erzählerischen Mitteln auskommen und dennoch von vielem berichten.
Bei einem Club-Sandwich erklärt Don/Murray einem möglichen Stammhalter die Summe seiner bisherigen Lebenserfahrungen: Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht gekommen, und wir können sie nicht kontrollieren. Uns bleibt nur das Hier und Jetzt. Jarmusch hat auf einem Publikumsgespräch diese Erkenntnis seiner Hauptfigur für sein eigenes Leben reklamiert. Sie kann ebenso für seine filmischen Arbeiten in Anschlag gebracht werden: das Kino als Maschine ohne Erinnerung, als Archiv reiner Jetztzeit, das dazu benutzt wird, den einzelnen Momenten ihr jeweiliges Eigengewicht zu belassen. Es interessiere ihn nicht, so Jarmusch, wie seine Figur dahin kommen konnte, wo sie sich zu Beginn des Films befindet, und er wisse auch nicht, was nach dem Ende mit ihr geschehen wird. Er wolle sie lediglich in der kurzen Zeitspanne ihrer Suche begleiten.
Der Kritiker Ralph Eue hat über die Jarmusch-Filme bemerkt, ihr Wesen bestehe darin, dass sie wie aus einem sich selbst erschaffenden Zauber „in gewichtiger Schwerelosigkeit“ existierten. In „Broken Flowers“ hat Jarmusch seine Erzählung noch weiter von manchen Ablenkungen und Manierismen befreit, um sich auf nichts als den Moment ihres Ablaufs konzentrieren zu können. Wenn Bill Murray schließlich, wie einst Tom Waits und John Lurie am Ende von „Down by Law“, an einer Wegkreuzung steht, ist es, als ob der finale 360-Grad-Schwenk ihm noch einmal alle Möglichkeiten aufzeigen wolle, wohin er als Nächstes gehen kann.
„Broken Flowers“. Regie: Jim Jarmusch. Mit Bill Murray, Julie Delpy, Jessica Lange. USA 2005, 105 Min.