zwischen den rillen : Der strahlende Pop der Reaktion
Die großartige „Atomic Platters“-Box dokumentiert den Atombomben- und Paranoiapop des Kalten Krieges
Man kann der Popkultur ja nicht entkommen. Heute nicht und schon in den Fünfzigern nicht. Stell dir vor, du bist auf dem Weg zur Schule und auf einmal explodiert eine Atombombe, sagt das Lehrfilmchen „Duck And Cover“ von 1951, enthalten auf der Bonus-DVD von „Atomic Platters“. Was machst du? Willst du einfach so sterben? Nein! Ein paar kleine Dinge reichen schon, und du bist sicher. Duck and cover! Schmeiß dich auf den Boden und halte dir die Hände über den Kopf – schon kann dir eigentlich nichts mehr passieren. Hör auf deine Lehrerin! Die Welt mag untergehen, aber wenn du lernst, dich unter der Schulbank zu verstecken, kommst du vielleicht durch.
Es ist eines der erfolgreichsten und wirkmächtigsten Gerüchte der Popkultur, dass sie Gegenkultur zu sein habe. Hört man sich die Musik auf „Atomic Platters“ an, der neuen 5-CDs-plus-eine-DVD des Wiederveröffentlichungslabels Bear Family über den Pop des Goldenen Zeitalters der Homeland Security stellt man fest: Sie kommt gut ohne aus. Die weit über hundert Stücke und Radiospots, Plakate und Warnfilme kommen aus jenem fernen kulturellen Kontinuum, das sich nach den Atombomben-Abwürfen von Hiroschima und Nagasaki erst zaghaft, mit dem Beginn des Kalten Krieges dann voller Macht öffnete. Sie sind antikommunistisch, gottesgläubig, großmannssüchtig. Und eben auch witzig, schmissig, effektvoll und populär. Die Stärke der amerikanischen Unterhaltungsindustrie beruht eben vor allem auf der Fähigkeit, jedes dreckige Gefühl in einen schmissigen Zweieinhalb-Minuten Song übersetzen zu können. Dies ist Pop, meist reaktionär, aber eben Pop – lauter kleine Versuche, ein paar schnelle Dollars mit der Angst und dem Grauen zu verdienen.
Das sind fantastisch-miese Songs wie „To Russia With Care“ von Harold Weakley, in dem jener davon träumt, seine nervige Ehefrau in eine Kiste zu nageln, um sie nach Russland zu versenden, weil er die Nase voll hat von ihrem Gerede. Oder „Poor Left-Winger“ von Janet Greene, einer Folksängerin, die als konservative Antwort auf Joan Baez aufgebaut werden sollte. Oder ein wunderbares Teenagedrama wie „Fallout Shelter“ von Billy Charmers, wo jener sich in die Rolle eines Jungen hineinimaginiert, der nach einer nuklearen Attacke lieber zusammen mit seiner Angebeteten stirbt, als seinem Vater nachzugeben, der die kleine Schlampe nicht im Atombunker sehen will. Oder Ferlin Husky, der in „Let’s Keep The Communists Out“ enthüllt, was die Roten wirklich vorhaben: den Weihnachtsmann ins Arbeitslager sperren nämlich!
Und was dieser Homeland Security Pop alles an Genres hervorgebracht hat. Etwa den Uranschürfersong, eine Atomzeitalter-Variante des Goldschürfersongs. Oder die Heldengesänge auf Francis Powers, den Piloten des Spionageflugzeugs, das öffentlichkeitswirksam 1960 über der UdSSR abgeschossen wurde. Oder die Songs über das Thema „Frauen sind Sexbomben und eigentlich sogar noch gefährlicher“ (besonders groß in „My Fallout Filly“, wo ein Sänger namens Chris Cerf sich darüber freut, dass sein Baby ihn ewig lieben will, wo sie doch eine Halbwertszeit von mehreren Millionen Jahren hat. Wer denkt sich denn bitte so was aus?). Oder all diese durchgedrehten Lieder, die vor lauter Fassungslosigkeit über die übermenschliche Macht der Atombombe nicht müde werden, den Herrn zu preisen (besonders irre: „Jesus is God’s Atomic Bomb“ von den Swan’s Silvertone Singers, auch darauf muss man erst mal kommen). Wovon es wiederum Country- und Doowop-Varianten gibt.
Man kann all die Songs und Filme, Spots und Bilder, die die Macher dieser großartigen Sammlung in jahrelanger detailverliebter Recherche zu Tage gebracht haben, auch für eine Art kultureller Variante atomaren Abfalls betrachten. Einstmals generierten sie gesellschaftliche Bewegung, Angstströme und Paranoiaschübe. Dann landeten sie in den Zwischenlagern der Archive und wurden vergessen. Und nun, knapp fünfzig Jahre später, haben sie einiges von ihrer Gefährlichkeit verloren und man kann sich mit einigem Gewinn an den grünleuchtenden Mustern erfreuen, die sie im Dunkeln noch an die Wand werfen.
Kriege hinterlassen Spuren. Die Paranoia-Erfahrung einer ständigen Bedrohung durch einen Atomschlag (von außen) in Kombination mit die Ordnung untergrabenden Kommunisten (von innen) dürfte für die Entstehung der Gegenkultur der Sechziger genauso wichtig gewesen sein wie der Vietnamkrieg, die Pille und LSD. Mal schauen, was der War On Terror, Springsteens „The Rising“ und der farbige Fernsehalarm plus der Bedrohung durch Monsterwellen und Jahrhundertstürme an kulturellen Langzeitfolgen haben wird.
TOBIAS RAPP
V.A.: „Atomic Platters“ (Bear Family Records). 5 CDs, eine DVD und ein aufwändiges 294-seitiges Booklet. Erhältlich im gutsortierten Fachhandel und im taz-Shop