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Archiv-Artikel

„Das Kino ist unsere Religion“

Asha Bhosle ist die meistgehörte Sängerin der Welt: Mit ihrer Schwester ist sie seit fünfzig Jahren die musikalische Stimme des Bollywood-Kinos

INTERVIEW MAX DAX

taz: Frau Bhosle, Sie gelten als Stimme Bollywoods, weil Sie und Ihre Schwester Lata Mangeshkar die Titel für fast jede größere Bollywood-Produktion gesungen haben, die in den letzten fünf Jahrzehnten gedreht worden ist. Wie kam es zu dieser Karriere?

Asha Bhosle: Seit fast sechzig Jahren arbeite ich jetzt für die Filmindustrie, und ich wohne eigens in Bombay, um stets in der Nähe der Filmindustrie zu sein. Ich kenne kein anderes Leben als das der Sängerin. Wissen Sie, ich stamme aus einer Künstlerfamilie. Mein Vater, Dinath Mangeshkar, war der Gründer seines eigenen Theaterensembles, der Balwant Natak Company. Wir waren immer dort zu Hause, wo das Ensemble spielte. Mein Vater war übrigens wie ich ein klassisch ausgebildeter Sänger. Wir haben zu Hause immer klassische indische Musik gehört. Meine Schwestern und ich wurden von unserem Vater in Gesang unterrichtet. Mein Vater wollte, dass ich Sängerin werde – allerdings nicht für das Kino.

War dieser Schritt so etwas wie eine Revolte?

Nein, eher schon Pragmatismus. Ich habe nie an eine Karriere als Filmsängerin geglaubt. Alle dachten, ich würde in die Fußstapfen meines Vaters treten. Doch dann fragte ich meinen damaligen Musiklehrer um Rat: „How can I make money with music?“ Er sagte zu mir: „Classical music: no money!“ Also fragte ich ihn, wie ich dieses Dilemma lösen könnte. Und er antwortete ohne große Umschweife: in der Unterhaltungsbranche. So gelangte ich zum Kino. Ich singe bis heute leichte Musik. Und ich habe es nie bereut.

Sie gelten heute als die meistgehörte Sängerin der Welt, allenfalls gefolgt von US-Popstars wie Madonna oder der arabischen Sängerin Diva Oum Karthoum. Unklar ist nur, ob Sie eine Milliarde Platten oder nur ein paar hundert Millionen verkauft haben.

In Indien hört man irgendwann auf, die Platten zu zählen, die einer verkauft. Das mussten schon die Beatles erleben, als ihre Alben in Indien erschienen. Das liegt daran, dass Musik in Indien traditionell auf Kassetten verkauft wird und Kassetten eben leicht zu kopieren sind.

Wie viele Lieder haben Sie in Ihrem Leben denn insgesamt aufgenommen?

Zu meinem 60. Geburtstag, das war vor zehn Jahren, ist in Indien ein Buch über mich und meine Kunst erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich 12.000 Songs aufgenommen. Rechnen Sie seitdem etwa einen Song pro Tag dazu, das macht 3.650 Songs, also zusammen knapp 16.000 Lieder. Niemand sonst hat in dieser Zeit so viele Songs eingespielt wie ich.

Warum konnten Sie das?

Das liegt an meiner Disziplin. Gott hat mir diese Energie gegeben. Ich habe über Jahre jeden Tag zwei, drei, vier Songs aufgenommen, an einigen wenigen Tagen sogar sieben. Ich möchte anmerken: Diese Songs wurden stets mit Live-Musikern im Studio aufgenommen, ich habe nicht bloß die Gesangsspuren eingesungen. Die meisten Songs habe ich übrigens in einem Take aufgenommen – diese Routine habe ich mir mit der Zeit angeeignet.

Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?

Man kann zu meiner Musik, die ja meist die Playbackmusik für die Tanzszenen in den Bollywoodfilmen bildet, gut tanzen. Bollywood bietet alles, was das indische Herz begehrt: Komödie, Slapstick, Herzschmerz, Drama, Träume, Übertreibung – vor allem aber indische Musik, indische Tänze und bunte, indische Gewänder. Bollywood hat bewiesen, dass man in Indien mit dem Kino alle kulturellen Grenzen überwinden kann. Bedenken Sie: Indien ist groß – und meine Musik war sogar imstande, die 251 Sprachen des Landes zu überbrücken.

Man hört in tausenden von Bollywood-Filmen Ihre Stimme – aber es sind stets andere Schauspielerinnen, die zu Ihrem Gesang die Lippen bewegen. Ist das nicht seltsam?

Das fällt in Indien gar nicht mehr auf. Dass Sängerinnen anstelle der Schauspieler singen, ist eine alte Tradition, so alt wie das Kino selbst. Ich muss mich korrigieren: Es gibt nur zwei Sängerinnen – meine Schwester Lata Mangeshkar und mich. Die Regisseure haben also gar keine große Auswahl!

Warum hat eine so große Industrie letztlich nur zwei Sängerinnen hervorgebracht?

Weil meine Stimme so bekannt ist. Die Leute wollen eben immer meine Stimme hören oder die Stimme meiner Schwester. 1956 habe ich als erste indische Sängerin einen Rock-’n’-Roll-Song gesungen, und so ging das seitdem mit jedem neuen Stil, der populär wurde – ich habe auch in diesem Stil gesungen. Auf diese Weise habe ich jeden Musikstil für mich vereinnahmen können. Dagegen kommt keine noch so talentierte junge Sängerin an. Das Publikum kann sich gar nicht vorstellen, einen Film zu sehen, in dem meine Stimme nicht zu hören ist.

Das führt dazu, dass Sie in ein und demselben Film ganz unterschiedliche Rollen singen: die Heldin, die Verführerin, die Gegenspielerin, die Verliebte, die Betrogene.

Dafür habe ich stets eng mit den Schauspielerinnen eng zusammengearbeitet. Sie haben mich oft im Studio besucht, wenn ich die Lieder für den jeweiligen Film einsang, und saßen mitunter im selben Raum, während ich sang. In den Aufnahmepausen haben wir uns zusammengesetzt und über den Film gesprochen. So habe ich die Körpersprache der jeweiligen Schauspielerinnen erlebt, und sie haben mich erlebt. Das ist ein Qualitätsaspekt von Bollywood-Filmen.

Ein Kritiker hat einmal über Sie geschrieben: „Asha Bhosles Gesangsnuancen ermöglichten Generationen von Schauspielerinnen, auf der Leinwand zu knospen und Blüten zu treiben.“

Ja, das hat mich damals sehr gefreut. Sie müssen wissen: Ein Inder hat zwei Leben: das echte Leben und das zweite Leben im Kino. Inder können nicht ohne Filme leben und auch nicht ohne Musik. Kino ist wie eine Gottheit: Es ist die einzige Unterhaltung, die die Menschen kennen. Dementsprechend ist es so wichtig, alles zu geben, wenn man in Indien fürs Kino arbeitet.

In Europa ist es mitunter schwer nachzuvollziehen, wie ein System funktionieren kann, das auf dreieinhalbstündigen Schmachtfetzen aufbaut.

Ja, aber Sie übersehen, dass es dreieinhalb Stunden Unterhaltung sind. Die Menschen lieben die Musik. Man hat zwischenzeitlich mal versucht, Bollywood-Filme ohne Tanzeinlagen zu produzieren: Sie sind gnadenlos gefloppt. Also kehrte man zu der Formel: Film + Musik = Erfolg zurück. In Indien, müssen Sie wissen, hört man Musik zu jeder besonderen Gelegenheit. Wenn ein Kind geboren wird, wenn geheiratet wird, wenn einer stirbt: Immer wird gesungen, gemeinsam gesungen. Musik ist unser Leben. Eigentlich verwundert es mich daher, dass es fast 60 Jahre gebraucht hat, bis man in den letzten Jahren meine Musik endlich auch im Westen wahrzunehmen begann.

Die britische Band Cornershop und ihr Sänger Tjinder Singh hat Ihnen vor einigen Jahren den Song „Brimful Of Asha“ gewidmet. Wie hat Ihnen diese Hommage gefallen?

Das war nett von ihnen. Damals begannen junge Inder in London, in England, auf meine Musik aufmerksam zu werden. Aus welchem Land kommen Sie noch mal?

Aus Deutschland.

Ihr Land ist ein schönes Land. Ich habe einmal ein paar Tage in München verbracht. Da bin ich in einer TV-Show aufgetreten und habe ein Lied gesungen. München ist schön, ich konnte die Berge von dort sehen.

Kaum ein Bollywood-Film scheint heute ohne eine Tanzszene in den Schweizer Alpen auszukommen.

Die Schweiz ist natürlich auch in Indien ein Inbegriff für Wohlstand, Exotik und heile Welt. Hinzu kommt: Man kann in Indien kaum noch Filme drehen, weil die Hauptdarsteller alle so berühmt sind. Die werden regelrecht zerfleddert, wenn die sich auf die Straße wagen. So etwas passiert ihnen in der Schweiz nicht.

Jetzt haben Sie mit dem Kronos Quartet alte Songs, die Sie früher schon einmal aufgenommen haben, wieder veröffentlicht – in neuen Versionen.

Das Kronos Quartet stammt aus Amerika. Sie fragten meinen Sohn Anand, ob sie für Aufnahmen meinen Gesang benutzen dürften. Als ich das gehört habe, meinte ich zu ihnen: Dann singe ich doch lieber gleich alles neu ein, das geht schneller. Aber mir ist natürlich auch klar, dass ich in den USA nicht bekannt bin. Meine Überlegung ist: Vielleicht kann ich mit Hilfe des Kronos Quartets in Amerika bekannt werden? Die Musiker vom Kronos Quartet sind übrigens echte Gentlemen, sehr freundliche Herren. Die können mit ihren Instrumenten umgehen, und sie wissen, wie man eine Dame behandelt. Und genau wie ich mögen sie es, schnell zu arbeiten.

Geben Sie manchmal Konzerte?

Früher so gut wie gar keine. Eins habe ich 1976 in Amerika gegeben, danach passierte lange Zeit gar nichts. Mir waren meine Verpflichtungen in Indien wichtiger. Heute sehe ich das etwas gelassener. Ich gebe heute gerne Konzerte, weil ich die Reaktion des Publikums direkt erleben kann. Wenn ich für das Kino singe, dann klatscht niemand im Kinosaal. Ich finde es aber wichtig, dass man als erfolgreicher Sänger auch im Restaurant erkannt wird. Immerhin singen wir für die Menschen – und nicht für das Kino.

Die alten Kinos in Indien gleichen nicht selten Palästen aus einer anderen Zeit.

Das sind riesige Kinopaläste. Die Engländer haben diese Kinos während der Kolonialzeit bauen lassen, um ihre Kultur nach Indien zu bringen. Heute gibt es noch fünf dieser tollen alten Kinos in Bombay. Die anderen haben alle geschlossen. Dafür haben Dutzende von neuen, klimatisierten Multiplexen aufgemacht, in denen jeweils mindestens fünf Kinosäle unter einem Dach untergebracht sind.

Die alten Kinopaläste waren dafür bekannt, dass sich auch die ärmsten Menschen den Eintritt leisten konnten. Auch das war natürlich einer der Gründe, weshalb das Kino überhaupt diesen Stellenwert in Indien erlangen konnte.

Früher hat der Besuch einer Kinovorstellung drei oder vier Rupien gekostet, das entspricht einem oder zwei Cent. Der Besuch einer Vorstellung im Multiplex-Kino ist dagegen teuer, er kostet vielleicht zwei Euro.

Sind die neuen Kinos wenigstens ähnlich schön wie die alten?

Nein, die alten Kinos hatten die größeren Leinwände. Ich erinnere mich noch, wie damals der „Cleopatra“-Film mit Elisabeth Taylor in die Kinos kam. Die großen Leinwände wurden für große Filme mit großen Emotionen gemacht. Heute wird in den ausländischen Filmen nur noch geschossen. Kürzlich habe ich „Matrix“ gesehen – ein schlechter Film. Niemand hat gesungen, ich bin fast eingeschlafen. Da stört es natürlich niemanden, wenn es nur noch kleine Leinwände gibt.

Stirbt da eine Kultur?

Die Menschen haben auch in Indien begonnen, sich ans Fernsehen zu gewöhnen. Gegenüber dem Fernseher ist selbst eine kleine Leinwand groß. Ich verstehe das nicht, wie die Menschen so dem Fernsehen verfallen konnten. Ein Kinobesuch war für mich immer damit verbunden, dass man sich für den Abend schön gemacht hat, dass man Freunde traf, dass man gemeinsam im Kino geheult hat und man anschließend beim Abendessen im Restaurant über den gerade gesehenen Film redete.

Sind Sie traurig darüber, dass sich die Zeiten ändern?

Nur ein bisschen. Alles ändert sich, und alles hat sich immer geändert. Darüber regt man sich nicht auf. Nicht mehr in meinem Alter.