: Lenin und Lotus
Was der deutschen Hauptstadt ihre Bären, sind den Kalmücken Buddhastatuen und Pagodendächer: Über die Schwierigkeiten mit kulturellen Traditionen zwischen Wolgograd und dem Kaspischen Meer
VON SANDRA FRIMMEL
Die Kalmücken, ursprünglich buddhistische Nomaden aus der westlichen Mongolei, siedeln seit Beginn des 17. Jahrhunderts in der Gegend zwischen Wolgograd und dem Kaspischen Meer. Zu Sowjetzeiten war Kalmückien eine autonome Sowjetrepublik, bis diese im Zuge des Zweiten Weltkriegs aufgelöst und die Bewohner wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen nach Sibirien deportiert wurden. Erst 1957 wurde ihnen die Rückkehr erlaubt, Kalmückien als Sowjetrepublik wiederhergestellt. Seit der Auflösung der UdSSR hat Kalmückien mit rund 330.000 Einwohnern, davon etwa die Hälfte Kalmücken, den Status einer Autonomen Republik. Die etwa 150 Jahre alte Hauptstadt Elista ist mit 110.000 Einwohnern die einzige bedeutende Siedlung. Amtssprache ist Russisch, zweite Umgangssprache Kalmückisch. So weit die wesentlichen Fakten.
Elista, wörtlich „Stadt im Sand“, ist heute eine Stadt inmitten von Sandsteinskulpturen. Die buddhistisch inspirierten Plastiken stammen vom einem Internationalen Skulpturen-Symposium, das zwischen 1996 und 1998 viermal stattfand. Laut dem damaligen Kulturminister Nikolai Sandschiew diente es der Stadtverschönerung. Nun wimmelt es in Elista von folkloristischen Buddhafiguren, Löwen und Kamelen. Auf den kalmückischen Betrachter haben sie einen ähnlichen Effekt wie die überall in der deutschen Hauptstadt lauernden Bären auf den Berliner.
Trotz ihres eher kuriosen Charakters sollen die Skulpturen Kalmückien als eigenständige Kulturnation rehabilitieren. Wie Sandschiew unterstreicht, bestand die wesentliche Aufgabe der Kulturpolitik bis heute darin, die Originalität der kalmückischen Kultur, die nach beinah einem Jahrhundert des sowjetischen Kolonialismus zu großen Teilen in Vergessenheit geraten ist, hervorzuheben. Dazu bedient sich die Regierung der Architektur und Religion, wobei sie bewusst mit dem Bild der Kalmücken als den westlichsten Buddhisten spielt.
Da Elista während der Schlacht von Stalingrad vollständig zerstört wurde, besteht die wesentliche städteplanerische Aufgabe in der Errichtung typisch buddhistischer Gebäude. Dies ist allerdings problematisch, weil sich die originär kalmückische Architektur auf die transportable Jurte beschränkt. Die ist als Vorbild aber wenig tauglich. Zudem beschränkt sich die Bautätigkeit aufgrund mangelnder finanzieller Mittel auf so genannte kleine architektonische Formen. In ähnlicher Häufung wie die Sandsteinskulpturen reihen sich daher Pagoden mit Buddhaskulpturen, Torbögen mit buddhistischen Bilderzyklen, Laternen mit buddhistischen Ornamenten oder Mosaike mit Motiven aus dem nationalen Dschangar-Epos aneinander. Sozialistischen Verwaltungskomplexen werden Vordächer in den traditionellen Farben Gelb und Rot vorgebaut oder Lotusskulpturen aufs Dach gesetzt. Als unfreiwilliges Symbol der kleinen architektonische Form im buddhistischen Gewand könnten die Lebensmittelkioske mit ihren Pagodendächern gelten. Trotz all der althergebrachten Formen, Farben und Motive wirken die Bauten merkwürdig verschoben und surreal, da sie eine Architekturtradition heraufbeschwören, die nie existierte.
Auch die so genannten City Chess am Rande der Steppe sieht wie ein vom Himmel gefallener architektonischer Fremdkörper aus. Das olympische Dorf der Schachspieler wurde auf Geheiß des Präsidenten Kirsan Iljumschinow anlässlich der Schacholympiade 1998 unter Leitung des Architekten Ahmed Bostschajew mit Blick auf einen kleinen See errichtet. Nach der Olympiade sollte es als Hotelkomplex für Touristen dienen. Doch Touristen gibt es in Elista bisher nicht. Die Hotels in der City Chess stehen leer. Nur wenige Häuser sind von Familien bewohnt, denen der Präsident die horrend teuren Wohnungen zum Geschenk gemacht hat. Der See wurde mittlerweile in einen Staudamm umgeleitet. Die Schachstadt gleicht sowohl atmosphärisch als auch architektonisch einer Reihenhaussiedlung in einer deutschen Kleinstadt, nur dass in Deutschland das Bild des Dalai Lama auf einer Plakatwand fehlt.
Der schwerwiegende Konflikt bei der Suche nach einem wieder zu erringenden nationalen und kulturellen Selbstverständnis des Landes und seiner Bewohner spiegelt sich im Aufstellen und Abbauen von Denkmälern wider. Zum Sinnbild dieses Prozesses wurde die Umgestaltung des zentralen Leninplatzes. Die ehemals im Zentrum des Platzes befindliche Leninstatue wurde an dessen Rand gestellt, um in der Mitte Raum zu schaffen für eine buddhistische Pagode sowie für eine Lotusskulptur. Die Leninstatue endgültig zu entfernen und sich so jeglichen Symbols der sowjetischen Kolonialmacht zu entledigen, kommt nicht in Frage, da Lenin ebenso eng mit der lokalen Tradition verbunden ist: Seine Großmutter stammt aus Kalmückien. SANDRA FRIMMEL