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Archiv-Artikel

Die geräumte Bastion

„Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu stehen“

VON BETTINA GAUS

Wenn man den Leuten glauben will, was sie über ihren eigenen geistigen Standort sagen, dann gibt es in Deutschland nur noch sehr wenige Konservative. Lediglich einige Linke und Grüne, die den Begriff etymologisch betrachten, treiben die Statistik ein bisschen nach oben: Sie betonen, dass ihr Sinnen und Trachten darauf ausgerichtet sei, Erhaltenswertes zu bewahren, von der Umwelt bis zu den sozialen Sicherungssystemen. Und dass deshalb sie – im eigentlichen, ursprünglichen Sinn des Wortes – die wahren Konservativen sind.

Wer Begriffe auf ihre tatsächliche Bedeutung hin abklopft, schützt damit sich und andere vor der schleichen- den Wirkung verführerischer Worthülsen. Den rechten Usurpatoren, die sich der Bezeichnung „Republikaner“ bemächtigt hatten, ist diese Anmaßung viel zu selten um die Ohren gehauen worden. Aber ob die Eroberung des Begriffes „konservativ“ tatsächlich die Mühe lohnt? Zum einen handelt es sich ja – anders als im Zusammenhang mit den „Republikanern“ – nicht um eine Rückeroberung. Vor allem aber spricht vieles dafür, dass hier eine Festung gestürmt wird, die längst geräumt worden ist.

Welche Prominenten aus den Reihen der Unionsparteien würden sich heute noch als konservativ bezeichnen? Wolfgang Schäuble vermutlich, wohl auch Edmund Stoiber. Vielleicht Roland Koch. Und wer noch? Christian Wulff? Peter Müller? Ursula von der Leyen? Jürgen Rüttgers? Annette Schavan? Ach was.

Friedrich Merz hatte es sich als Fraktionsvorsitzender der Union bei einer Bundestagsdebatte über die deutsche Leitkultur ausdrücklich verbeten, ihn und seine Parteifreunde als „deutsche Konservative“ zu bezeichnen. Zumindest in dieser Frage dürfte er mit seiner Lieblingsfeindin Angela Merkel übereinstimmen. Und wie hätten es diejenigen gerne, die nicht mehr konservativ genannt werden wollen? In aller Stille haben sie und ihre publizistischen Mitstreiter sich ein neues, wohnliches Zuhause geschaffen: von den „bürgerlichen“ Parteien ist jetzt die Rede, wenn die Konservativen von einst und die Neoliberalen von heute gemeint sind.

Diese Aneignung eines ehrenwerten historischen Begriffs sollte so widerstandslos nicht hingenommen werden, wie das derzeit der Fall ist. Nicht nur deshalb, weil die Kennzeichnung offenkundig unsinnig ist. Bürgerlicher als die grün wählende Zahnärztin und der sozialdemokratische Studienrat kann man kaum sein.

Wichtiger noch ist, dass zugleich mit dieser Zuschreibung für Union und FDP ein uraltes, längst überwunden geglaubtes Menschen- und Gesellschaftsbild akzeptiert wird – gewissermaßen durch die Hintertür: die Abgrenzung von den niederen Ständen. Den Arbeitslosen, den Schulabbrechern, den Besitzlosen. Fürsorge kann denen zuteil werden, gewiss, und wenn sie wissen, was gut für sie ist, dann wenden sie sich nicht dem politischen Gegner zu. Aber die Elite bleibt unter sich, politisch wie gesellschaftlich. Ganz wie früher. Beiläufig wird dem Ideal der nivellierten Mittelschichtgesellschaft der Abschied gegeben. Dieses Ideal hatte auch die Union einmal auf ihre Fahnen geschrieben. Gerade die Union.

Aber das Wort von den „bürgerlichen Parteien“ besagt noch mehr, wenn es als Mittel der Unterscheidung vom politischen Gegner benutzt wird. Es birgt die dramatische – und absurde – Unterstellung, alle, die diesem Lager nicht zuzurechnen seien, gehörten nicht der bürgerlichen Gesellschaft an. Wer nicht zu uns gehört, gehört nirgendwohin. In diesem Sinne ist das harmlos tönende Gerede von den bürgerlichen Parteien radikaler Ausdruck einer reaktionären Gesinnung. Sehr viel reaktionärer als der Konservatismus es sein müsste.

Warum ist dieser Begriff des Konservativen überhaupt in Misskredit geraten – zumindest bei denen, die im landläufigen Sinn als „die Konservativen“ bezeichnet werden? Ein Zufall ist das nicht. Sondern vielmehr die – bei den meisten wohl uneingestandene – Einsicht, dass die inneren Widersprüche dieser Geisteshaltung sich im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr auflösen lassen. In einer grenzenlosen Welt stößt der Konservatismus an seine Grenzen.

Das unterscheidet ihn von Rechtsextremismus und Nationalismus. Deren Anhänger führen den Kampf gegen die als entwurzelnd erlebte Moderne stets prinzipiell. Der Konservatismus hingegen hat versucht, die Moderne in seinem Sinne zu formen. Was das im Einzelfall bedeutete, hing von der jeweiligen konkreten Situation ab.

Otto von Bismarck und Margaret Thatcher haben sehr unterschiedlich auf Herausforderungen des Kapitalismus reagiert. Gemeinsam war beiden: Programme und Theorien spielten eine untergeordnete Rolle. Die Praxis der eigenen Politik wurde als hinreichend für deren Begründung gesehen. „Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu stehen“, hat der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß einmal gesagt. Von so viel Selbstbewusstsein kann ein Friedrich Merz nur träumen.

Die Vulgärdefinition, Konservative hielten bis zum letzten Atemzug an den bestehenden Verhältnissen fest und scheuten jede Veränderung, könnte unzutreffender kaum sein. Das Gegenteil ist richtig: Keine andere Geisteshaltung hat sich flexibler – unfreundlich: opportunistischer – gegenüber wandelnden Gegebenheiten gezeigt als die konservative.

Was hat der Konservatismus nicht alles überwunden, um Ideen wie Aufklärung, Liberalismus und Sozialismus ihrer Anziehungskraft zu berauben! Die Monarchie, die Ständegesellschaft, den noch von Edmund Burke herrührenden, seinerzeit fest verwurzelt scheinenden Glauben an die Ungleichheit der Menschen. Warum funktioniert dieses geschmeidige Konzept der Anpassung heute nicht mehr? Warum vermag kaum jemand zu sagen, wofür Angela Merkel eigentlich steht – sondern allenfalls, wofür sie nicht steht?

Jede Weltanschauung muss ihren Anhängern ein Gerüst bieten, das sie untereinander eint und mit dessen Hilfe sie sich nach außen hin abgrenzen können. Eine politische Haltung, die weniger auf die Theorie als auf die Praxis baut, braucht einen besonders alltagstauglichen Rahmen. Verweise auf eine bessere Welt der späteren Zukunft oder gar im Jenseits genügen da nicht.

Dieser Rahmen ist den Konservativen abhanden gekommen. Ausgerechnet seine unverrückbar scheinenden Größen sind ins Wanken geraten: der Glaube an den Wert der Gemeinschaft als solcher, an die Naturgegebenheit fester hierarchischer Strukturen, an die Familie als Hort der Sicherheit. An einen Bildungskanon, der denen als Erkennungszeichen dient, die „zu uns“ gehören – und jene ausschließt, die draußen bleiben sollen.

Im Computerzeitalter, in dem sich das Wissen der Welt in immer kürzeren Abständen vervielfacht, kann ein solcher Kanon sein altes Versprechen nicht mehr einlösen: eine lebenslang gültige Eintrittskarte zu sein, die Zugang zum überschaubaren Kreis der Elite verschafft. Blätter wie Zeit und Süddeutsche erstellen nun Bestenlisten der Literatur, das ZDF kürt den größten Deutschen der Geschichte, und das öffentliche Interesse an Quizsendungen will einfach nicht erlahmen. Alles Ausdruck einer tiefen Verunsicherung darüber, was „man“ eigentlich heute wissen muss – und was nicht mehr. Die deutschen Abiturienten des 19. Jahrhunderts, der Blütezeit des Konservatismus, hätten nicht einmal die Fragestellung verstanden. Warum über Selbstverständlichkeiten reden?

Ein Blick auf andere Herausforderungen des konservativen Weltbildes kann dessen verbliebene Anhänger kaum zuversichtlicher stimmen. Ist es auch nur theoretisch möglich, eine Position zur Gentechnologie zu entwickeln, die im klassischen Sinne konservativ ist: also zugleich bewahrend und aufgeschlossen gegenüber neuen Entwicklungen? Und wie lässt sich die traditionelle Wertschätzung der Nation und des Privateigentums mit den Realitäten multinationaler Konzerne und internationaler Finanzsspekulation geistig versöhnen?

Vaterlandsliebe wärmt in manchen Kreisen nach wie vor die Herzen. Unterdessen bekennen sich die Köpfe – auch die der Unionsparteien – zu Europa. Es ist zu bezweifeln, dass die Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei auf Dauer gemeinschaftsstiftend wirken kann. Zumal sich Wahlen in einer säkularen Gesellschaft nicht mit Verweis auf die vermeintliche abendländisch-christliche Leitkultur gewinnen lassen.

Konservative in Bayern, in der Schweiz oder in den USA haben’s gut. Überall dort kann von einer Krise ihrer Weltanschauung nach wie vor keine Rede sein. Aus einem einfachen Grund: Ihnen fällt es bis heute leicht, den Kernbegriff der „Gemeinschaft“ zu definieren. Das hat allerdings wenig mit Konservatismus zu tun, sondern vor allem – wenn auch sehr unterschiedliche – historische und geografische Ursachen. Taugt also nicht als Rezept für Gegenden dieser Welt, in denen die Verhältnisse komplizierter geworden sind.

Bleibt die Familie als universale konservative Bastion. Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ gerade ein flammendes Plädoyer für deren Wiederentdeckung als Fundament der Gesellschaft geschrieben – und zugleich die aus seiner Sicht narzisstische Kultur der Selbstverwirklichung und der Individualisierung der Gesellschaft gegeißelt.

Netter Versuch. Aber was hat zur Zerstörung traditioneller Familienstrukturen und deren auch ökonomischer Bedeutung wohl stärker beigetragen: die Funktionsweise der globalisierten Wirtschaft oder das Weltbild der 68er? Es sind ja gerade die Konservativen, die von Arbeitslosen höchste Bereitschaft zur Mobilität verlangen, für eine Lockerung des Kündigungsschutzes eintreten und – war da was mit Individualisierung? – mehr „Eigenverantwortung“ des Einzelnen fordern. Und die sich dann wundern, dass immer weniger Leute im festen Vertrauen auf die Zukunft drei Kinder bekommen. Oder ihre alten Eltern pflegen, während sie zugleich ungebunden und mobil den wechselnden Anforderungen des Arbeitsmark- tes ganz eigenverantwortlich gerecht werden.

Angela Merkel hat anlässlich ihrer Kür zur Kanzlerkandidatin erklärt, sie wolle „Deutschland dienen“. Außerdem hat sie kürzlich ein ausführliches Interview über ihr Verhältnis zu Richard Wagner gegeben. Klischees alleine werden nicht reichen, um die grundsätzliche Krise des Konservatismus zu beheben. Dafür genügt nicht einmal ein Wahlsieg.