: „Politiker wissen nicht, was da abläuft“
Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass fordert ein Steuersystem, das mehr Investitionen in Deutschland und nicht die Abwanderung ins Ausland fördert. Doch viele Abgeordnete wüssten viel zu wenig über Steuergesetze
taz: Herr Jarass, Sie kritisieren, dass Deutschland mit seinem Steuersystem den Export von Arbeitsplätzen subventioniert. Was läuft da genau ab?
Lorenz Jarass: Wenn etwa Siemens eine Betriebsstätte nach Tschechien verlegt, kann es sämtliche Kosten für Abfindungen, den Transfer und die Kreditaufnahme gegenüber dem deutschen Finanzamt geltend machen. Wenn Siemens aber in Tschechien Erträge erwirtschaftet, bleiben die bei uns steuerfrei.
Wieso lässt der deutsche Staat den gleichzeitigen Verlust von Jobs und Steuereinnahmen zu?
Der überwiegende Teil der Entscheidungsträger weiß nicht, dass so was geltendes Recht ist. In den Bundestagsfraktionen herrschte blankes Entsetzen, als sie das erfahren haben. Es gibt zudem starken Druck nicht nur von großen deutschen Unternehmen, sondern auch aus der internationalen Finanzgemeinde. Das Argument lautet, durch Auslandsinvestitionen werden deutsche Arbeitsplätze gesichert.
Das klingt nach sturer angebotsorientierter Politik.
Ja, wer hätte gedacht, dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung sich zum Sachwalter der internationalen Finanzkapitals macht und dass ausgerechnet ein Herr Stoiber Schluss mit der Subventionierung der Arbeitsplatzexporte machen will und Frau Merkel die von Rot-Grün abgeschaffte Besteuerung von Veräußerungsgewinnen von Unternehmensanteilen wieder einführen will.
Was raten Sie der nächsten Regierung?
Sie muss denjenigen Erleichterungen geben, die in Deutschland investieren, etwa durch bessere Abschreibungsbedingungen. Gegenzufinanzieren ist das durch die Beendigung der Subventionierung von Auslandsinvestitionen.
Beide große Parteien wollen die Körperschaftsteuersätze weiter senken. Ist das wirklich so alternativlos?
Wir haben zwar die höchsten Unternehmenssteuersätze in der EU, aber schon jetzt das niedrigste tatsächliche Steueraufkommen. Erst einmal müssen wir sicherstellen, dass alle, die den Standort Deutschland nutzen, hier auch ihre Steuern zahlen.
Den Unternehmen fällt es aber anscheinend nicht schwer, sich ihrer Steuerpflicht in Deutschland zu entziehen.
Richtig, etwa indem sie Zinsen und Lizenzgebühren ins Ausland abführen und auf diese Erträge in Deutschland keine Steuern mehr zahlen. Wir müssen deshalb zu einer Besteuerung der gesamten Kapitalrendite kommen, die ja übrigens auch auf den internationalen Finanzmärkten zur Bewertung eines Unternehmens herangezogen wird. Es muss künftig nicht mehr nur die Rendite auf das eingesetzte Eigenkapital – also die Gewinne – besteuert werden, sondern auch auf das Fremdkapital – also die Kreditzinsen – und das intellektuelle Kapital – also Lizenzgebühren. Das EU-konforme Vehikel dafür ist die Gewerbesteuer. Erst im zweiten Schritt könnte man einen Teil dieser Mehreinnahmen zur Senkung der hohen nominalen Steuersätze verwenden.
INTERVIEW: NICOLA LIEBERT