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Archiv-Artikel

„Wie eine Naturkatastrophe behandeln“

Trotz der hohen Todeszahlen sind die Anschläge von London kein totaler Erfolg für die Terroristen. Mit einer guten Organisation des Zivilschutzes können viele Folgen abgedämpft werden. So wird auch in Deutschland geübt

taz: Islamistische Täter schaffen es, im Herzen Londons serienweise Bomben zu legen, trotz all der Überwachungsmaßnahmen – ein großer Erfolg für die Strategie des Terrornetzwerks?

Andreas Reich: Das würde ich eher nicht so sehen. Wenn man sich die Opferzahlen ansieht, hätte es wesentlich schlimmer kommen können.

Entschuldigen Sie, als Folge der Anschläge vom 7. Juli sind mehr als 50 Menschen gestorben!

Es waren immerhin vier Anschläge – jeder eine mörderische Tat, gewiss. Aber alleine beim jetzt wieder betroffenen U-Bahnhof King’s Cross gab es 1987 einen Brand mit 31 Toten. Bei einem Unfall und nicht bei Anschlägen, die gezielt auf eine möglichst hohe Zahl von Opfern ausgelegt sind. Daher kann man sagen, dass es im Vergleich zu den Absichten ziemlich glimpflich ausgegangen ist.

Das ist jetzt aber sehr akademisch nüchtern gerechnet.

Es ist vom Zivilschutzaspekt her gerechnet. Jeder Tote ist eine Tragödie. Aber es hätte sehr viel schlimmer kommen können – mit mehr Know-how bei den Attentätern beispielsweise. Oder wenn sich die Katastrophenszenarien westlicher Geheimdienste verwirklicht hätten. Denn es wurde wieder „nur“ Sprengstoff benutzt. In den Szenarien und auch in Übungen in London wurde auch vom Einsatz biologischer, chemischer oder radioaktiver Waffen ausgegangen. Also Massenvernichtungswaffen.

Und die zweite Staffel der Bomben am 21. Juli?

Dazu kann man noch wenig sagen. Es ist noch nicht bekannt, warum alle Bomben nicht explodiert sind.

Aber trotzdem haben die Terroristen doch einen großen Teil ihrer Ziele erreicht: Polizei und Geheimdienste sind wochenlang nur mit der Fahndung beschäftigt und die Öffentlichkeit ist schockiert.

Ja, der so genannte Kommunikationserfolg ist da. Terrorismus will ja immer auch eine bestimmte Nachricht verbreiten, in diesem Fall: „Wir sind da, wir können bei euch operieren.“ Aber dem neuen Terrorismus wie bei al-Qaida genügt das nicht. Er will auch möglichst viele Tote produzieren. In den von Anschlägen betroffenen westlichen Ländern wurde danach die unterstützende Struktur zerschlagen. Diese wieder aufzubauen ist aufwändig und dauert.

Wirklich? Anscheinend gibt es doch immer neue Selbstmordattentäter.

Glaubt man den Einschätzungen der Geheimdienste, gibt es zumindest in Europa davon nicht viele. Die Londoner Anschläge sind die ersten mit Hilfe von Selbstmordattentätern durchgeführten in Europa.

Premierminister Tony Blair sprach davon, die Terroristen würden nicht angetrieben vom Islam oder von politischen Motiven, sondern von einer „Ideologie des Bösen“. Was könnte er damit meinen?

Vielleicht will Blair ein Feindbild aufbauen, gegen das Polizei und Militär mit konventionellen Mitteln vorgehen können. Das Problem ist nur: Die Al-Qaida-Struktur oder die ihrer Nachahmer ist sehr schwer fassbar, weil sie in einzelnen Zellen operiert. Terrorismus ist eine sehr schwer angreifbare Sache. Man muss am besten die Ursache dafür angehen und nicht einen Krieg gegen das Böse führen.

Aber was sind denn die Ursachen für Selbstmordattentate? Das ist doch alles irrational.

Die Planung für solche Anschläge macht kein Verrückter, das ist alles rational durchdacht. Mit einer Dämonisierung kommt man nicht weit. Natürlich ist Ursachenbekämpfung nicht einfach. Aber die Lösung des Konfliktes zwischen Israel und Palästina etwa würde nach Einschätzung vieler Beobachter die Motivation für den Terror mindern. Trotzdem wird es natürlich immer wieder Jugendliche geben, die den Weg des Terrors gehen. Das hatte man ja auch schon zu anderen Generationen und mit anderen Ideologien.

Und welche Schlüsse bleiben den westlichen Gesellschaften nun?

Man kann auch positive Lehren daraus ziehen: Großbritannien nahm an, dass es irgendwann passiert. Die Behörden waren darauf vorbereitet. Und als jetzt in der U-Bahn die Bomben explodierten, kamen alle Leute, die sich noch bewegen konnten, immens schnell raus. Verletzte wurden schnell verarztet und versorgt.

Ein schwacher Trost für Bürger einer westlichen Großstadt.

Wir stehen zwar unter Bedrohung. Vielleicht kommen die Einschläge sogar näher. Aber wir haben die Möglichkeit – wenn es uns trifft –, ganz schnell versorgt zu werden. Terrorismus wird also eher wie eine Naturkatastrophe zu sehen sein und nicht wie ein politisches Ereignis. Und der Katastrophenschutz greift. Wie bei einer Flut. Da können Sie auch mit guter Organisation die Folgen abdämpfen. In diesem Sinne werden auch in Deutschland Anschlagsszenarien geübt.

INTERVIEW: REINER METZGER