nebensachen aus tatarstan : Kampf gegen Korruption oder: Statt eines Mercedes vom Dealer eine Wohnung vom Staat
„Wer nicht schmiert, fährt nicht“, besagt eine uralte russische Volksweisheit. Informelle Zuwendungen an Beamte erleichtern die Unbill des Alltags. Andernorts nennt man dies Korruption. Ist das Prinzip indes allgegenwärtig, erfasst der grobe Vorwurf das Wesen des Phänomens nicht hinreichend. Die Motivationshilfe ist die Währung der praktischen Vernunft, ein Zahlungsmittel, an den sich ausnahmsweise alle halten.
Nach dem Gesundheits- und Bildungswesen gehören Miliz und Verkehrspolizei zu den privilegierten Nutznießern des ungeschriebenen Regelwerks. Gelegentlich regt sich dennoch das Gewissen: Unehrlichkeit als Normalität, kann das normal sein ?
Oft sind solch schizophrene Schübe die Geburtsstunde unterhaltsamer Pilotprojekte wie derzeit in Tatarstan. Dort hatte die Polizei wieder gegen die staatlich sanktionierte Vorgabe des maßvollen Schröpfens verstoßen. Polizeichef Rifkat Minnichanow versah die Außendienstler mit Aufnahmegeräten: Ihr Gespräch wird aufgezeichnet. Doch das reicht nicht. Bahnbrechend sind Regeln zur Verzichtsvergütung: Beamte, die Schmiergelder verweigern, erhalten eine Gratifikation in Höhe der gebotenen Freikaufprämie. Bedingung: Vor Gericht muss der Beamte nachweisen, dass ihm ein unziemliches Angebot unterbreitet wurde.
Auch Innenminister Safarow war begeistert. Die Prämien können sich sehen lassen. Ferid Abitow stieß bei der Inspektion eines Mercedes in der Nähe von Kasan auf 15 Kilogramm Heroin. Als Schweigeprämie bot der Kurier seinen Wagen an. Doch Leutnant Abitow nahm den Fall vorschriftsmäßig auf. Der Drogenhändler zog für fünf Jahre ins Gefängnis, Inspektor Abitow in eine neue Wohnung, mit der sich der Staat revanchierte. Der Staat? Aus welchem Topf das Geld stammt, behält das Innenministerium für sich. Der wertkonservative Staatsanwalt Kafir Amirow begegnet dem Experiment jedoch skeptisch, er will ideell, nicht materiell belohnen.
Im Juni erreichte der „Willkürindex der Ordnungsorgane“ (IPPN), den das Lewada-Institut regelmäßig ermittelt mit 30,5 Zählern einen alarmierenden Rekord. Bei minus 100 fühlen sich die Bürger sicher. Drei Viertel der Russen halten die Ordnungsorgane für korrupt und fürchten deren Gewaltübergriffe mehr als notorische Kriminelle.
Organisierte Hehlerringe in den Staatsorganen sind keine Seltenheit. Die letzte Kampagne gegen „Werwölfe in Uniform“ sorgte dennoch für Aufsehen und rief die Polizeigewerkschaft auf den Plan. Stimmungsmache sei dies, klagte sie in einem Brief an den Präsidenten. Bevor man die Polizei denunziere, sollten Staatsanwaltschaft und Gerichte ins Visier genommen werden. Regelverstöße sind dort seltener, die profilierteren Kader steckten indes andere Summen ein. Gibt sich ein Streifenbeamter mit 100 Dollar zufrieden, nehmen Richter 10.000. Ein überführter Milizionär wandert zehn Jahre ins Gefängnis, der Staatsanwalt kommt mit fünf auf Bewährung davon. Freiwild sei der Polizist. Nicht nur von den Ordnungkräften, sondern unter allen Bürgern genieße er den geringsten Schutz. KLAUS-HELGE DONATH