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Archiv-Artikel

Moral gegen Schmutz

Political Studies (III): Rot-Grün ist gescheitert, weil man die Differenz zwischen Politik und Gesellschaft nicht einfach so aufheben und Gesellschaft nicht ohne weitere Umwege in Politik umsetzen kann

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON DIRK BAECKER

Das Ende war nur konsequent. Man wird der rot-grünen Koalition sicherlich vieles nachsagen können, aber dass sie über ihren eigenen Zustand jemals im Unklaren gelassen hätte, ist nichts, was man ihr vorwerfen könnte. Mit der Vertrauensfrage wird diese Ehrlichkeit und Offenheit nur auf den Punkt gebracht. Die Therapeuten würden sagen, dass die Koalition in der Vertrauensfrage so etwas wie eine „Strukturaufstellung“ vorgenommen hat, deren Pointe in diesem Fall darin besteht, dass ein Problem vorgeführt wurde, für das es keine Lösung gibt. Der Kanzler stellte die Vertrauensfrage, der größere Koalitionspartner antwortet mit einer Enthaltung, der kleinere stimmt mit Ja, die Opposition mit Nein, die notwendige Kanzlermehrheit ist damit also verfehlt.

An diesem Ende zeigt sich der kardinale Fehler der rot-grünen Koalition, der überdies, das kommt erschwerend hinzu, kein Lapsus war, sondern Programm. Sozialdemokraten und Grüne waren angetreten, um diesem Land zu zeigen, dass es eine Politik gibt, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Sie waren angetreten, um der älteren Auffassung, dass die Politik ein Geschäft für sich ist, ein neueres Programm entgegenzuhalten, demgemäß die Politik nichts anderes ist als der Inbegriff des Selbstverständnisses der modernen Zivilgesellschaft. Als könne man die Griechen beim Wort nehmen und Politik als Selbstbestimmung der Bürger betreiben, und nicht etwa als Kontrollmodus einer Sklavenhaltergesellschaft, schickte man sich an, die Differenz zwischen Politik und Gesellschaft zu streichen und Gesellschaft ohne jeden weiteren Umweg in Politik umzusetzen.

Dort, wo die Differenz unumgänglich blieb, etwa bei den überfälligen Entscheidungen zur Zukunft des Sozial- und Wohlfahrtsstaats, setzte man denn auch konsequent nicht auf Politik, sondern auf Beratung, sozusagen auf die Logik der Sache selbst, als gäbe es so etwas, und konzentrierte sich programmgemäß darauf, das Vermittlungsproblem der von dieser Beratung empfohlenen Maßnahmen für ein Problem zu halten, das qua Existenz dieser Koalition bereits gelöst ist. Vielleicht am deutlichsten wurde dieser Fehler bei der so „glücklichen“ Entscheidung gegen eine Teilnahme am Irakkrieg. Natürlich war und ist dieser Krieg eine Katastrophe. Und natürlich war es geradezu brillant, dass Frankreich und Deutschland sich der Teilnahme an ihm verweigert haben und dadurch den Block des Westens so sehr differenziert haben, dass auch auf der Gegenseite Differenzierungen zwischen Falken und Gemäßigten möglich wurden. Nichts hätte die Sache noch mehr verschlimmern können als eine einheitliche Position des Westens gegenüber dem nur dann so zu nennenden „Islam“.

Aber die Begründung war falsch, insoweit sie der Politik das Recht absprach, einen Krieg zu führen, und diese Haltung als zivilgesellschaftliche Conditio sine qua non verkaufte. Richtig wäre es gewesen, der Gesellschaft ihre Ablehnung des Krieges zu konzedieren und der Politik ihr Urteil darüber, wann er erforderlich ist und wann nicht, vorzubehalten. Immerhin war dies ja auch die Grundlage für die positive Entscheidung der Teilnahme am Kosovokrieg gewesen, auch wenn hier wiederum die falsche Begründung gegeben wurde, nämlich eine moralisch-gesellschaftliche Begründung für eine Bombardierung, die angesichts des sich anbahnenden Genozids gar nicht zu vermeiden gewesen sei.

All das läuft darauf hinaus, die Politik als Politik nicht ernst zu nehmen, so als sei sie in Wirklichkeit nur ein „schmutziges Geschäft“, dem man mit aller moralischen Wahrhaftigkeit entgegentreten könne, wenn man nur den Blick ganz fest darauf richtet, sich zu fragen, was „die“ Gesellschaft wirklich will und braucht, um es dann ohne Wenn und Aber umzusetzen. Das ist naiv und das ist gefährlich.

Es gibt zu früh einen Spielraum auf, der dann nicht mehr zur Verfügung steht beziehungsweise nur verdeckt und versteckt gesucht und wahrgenommen werden kann. Es gibt sich den Anschein einer Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, der in einer Gesellschaft, die hochgradig differenziert ist und zu jeder Position Dutzende von Gegenpositionen bereit hält, schlechterdings nur von Leuten durchgehalten werden kann, die in einer Nische sitzen, aber nicht von Leuten, die in die Mitte wollen.

Die Koalition der Sozialdemokraten und Grünen hat aus der Mitte eine Nische gemacht, in der zuletzt nur noch der öffentliche Dienst zu finden war, wahrhaftig keine Basis für eine Politik für ein bedeutendes Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturland. Und die Vertrauensfrage bringt dies auf den Punkt? Ja, denn hier wandte sich der Kanzler mit genau der Frage an das Parlament, mit der er auch angetreten war: Ich bin derjenige, dem ihr vertrauen könnt; vertraut ihr mir noch?

Und mit einer Rolle rückwärts wird von den Sozialdemokraten weder Ja noch Nein gesagt, sondern, bildlich gesprochen, weggeschaut. Die Einsatzbedingung von Politik, das Vertrauen in einen Kanzler, wird nicht offen gelegt, sondern versteckt. Es wird keine Differenz geschaffen, sondern eine Differenz geleugnet, und genau damit, das ist dann allerdings auch nur konsequent, eine politische Aussage getroffen, die darin besteht, das eigene Projekt für gescheitert zu erklären.

Nach sieben unterschiedlich glücklichen Jahren im Kanzleramt löst sich die Sozialdemokratie wieder in die Gesellschaft auf; und die Grünen nehmen es nicht ohne Erleichterung zur Kenntnis, da sie sich dort, in der Gesellschaft, immer schon wohler gefühlt haben. Nach wie vor müssen sie die Politik in ihrer ganzen Reichweite erst noch für sich entdecken. Deswegen waren sie für die Sozialdemokraten keine große Hilfe. Dem Bundespräsidenten ist daher nur zu empfehlen, das Scheitern der Vertrauensfrage so ernst zu nehmen, wie es gemeint ist, und den Weg für die Neuwahlen frei zu machen. Hier findet ein politisches Projekt sein Ende, das sein Ziel nicht erreichen konnte, weil es seine Rechnung nicht mit der Differenz der Politik gemacht hatte. Glück und Unglück der Macht erwischten diese Koalition kalt von hinten. Man wähnte sich an der Spitze einer Gesellschaft, die schon lange keine Spitze mehr hat, und wusste nicht, was dort von einem verlangt wird.

Und all dies, das macht es nicht einfacher, angesichts einer Politik, die sinnvollerweise den Umbau des Sozialstaats anging, die sinnvollerweise sich dem Irakkrieg entzog und die, abgesehen von der Eitelkeit des Sitzes im UN-Sicherheitsrat und der Fehleinschätzung der Visapolitik, sicherlich klug und mäßigend in vielen Regionen der Welt gewirkt hat. Hätte man sich selbst als Politik verstanden, als Arbeit mit den Mitteln der Macht, als Auseinandersetzung um die Möglichkeit des Kompromisses, als Streit um die Einsicht in die Notwendigkeit, hätte man es sicherlich einfacher gehabt.

So aber verstand man sich als Gesellschaft, fand diese dann nicht wieder, sich selbst auch nicht mehr und konnte deswegen nur noch darum bitten, das Vertrauen nicht mehr ausgesprochen zu bekommen. Eine historische Glanzleistung, die ungewollt schärfer auf die Bedingungen von Politik zu reflektieren erlaubt, als es jedes konservative Projekt, das von diesen Bedingungen immer schon ausgeht, erlauben wird.

Dirk Baecker, Jahrgang 1955, lehrt Soziologie an der Universität Witten/Herdecke