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Archiv-Artikel

Das Gute zeigen

Er ist der Spezialist des Unsichtbaren: Marcel Marceau erzählt vom Untertauchen, Weiterleben und einem verpassten Foto

INTERVIEW MAX DAX

taz: Monsieur Marceau, Sie heißen gar nicht Marceau, Ihr Künstlername ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Nom de Guerre.

Marcel Marceau: Natürlich. Mein echter jüdischer Name ist Marcel Mangel. Das ist ein guter Name, kein unaussprechlicher wie Bryszctcvckovsky. Den Namen Marceau habe ich angenommen, als ich in der Résistance gekämpft habe. Im Untergrund mussten wir alle unsere Namen wechseln. Victor Hugo hat viel über Napoleon geschrieben, der bekanntlich Kriege gegen Italien, gegen die deutschen Fürstentümer und gegen Russland geführt hat. Hugo sagte: Napoleons Generäle waren sehr gut, und einer der beiden besten war Marceau, der die Armee am Rhein führte. Nun, ich bin in Straßburg geboren, also wählte ich Marceau. Unter diesem Namen bin ich mit den Alliierten unter General Patton in Deutschland einmarschiert. Und nach dem Krieg, nach der Befreiung und Hitlers Selbstmord am 30. April 1945 habe ich den Namen einfach behalten.

Sie haben damals noch in der Armee angefangen mit der Pantomime.

Ich wollte, als Deutschland damals von uns und den Briten, den Amerikanern und den Russen besetzt war, nicht mehr vom Krieg sprechen. Ich habe damals einfache Pantomime vorgeführt, vor Kameraden, den einfachen Schmetterling, kleine Kabinettstückchen. Aber mit der Zeit bin ich tiefer in die Kunst eingedrungen. Heute, sechs Jahrzehnte später, hat meine Kunst eine Ebene, die man Erinnerung nennen könnte, heute erinnert sich Bip (Marceaus Bühnenpersönlichkeit, Anm. d. Red.) an den Krieg, denn der Krieg sitzt tief. Ich sage ja auch immer: Je älter man wird, desto größer wird der Blick auf das Leben.

In der Résistance war es auch, dass Ihnen die Körperbeherrschung, die ja ein wesentliches Element der Pantomime ist, einmal das Leben gerettet hat.

Sie sprechen davon, wie ich 1943 von der Gestapo in der Métro kontrolliert worden bin. Wir waren im Untergrund, unter falschen Namen, mit gefälschten Pässen. Etliche von uns sind deportiert worden. Viele wurden erschossen. Ich habe Glück gehabt. Immer wieder. Im Untergrund habe ich gelernt, dass ich besser nicht viel rede, noch besser schweige.

Sie wurden kontrolliert. Was ist passiert?

Franzosen haben mich kontrolliert. Französische Faschisten, Vichy-Verräter, Gestapo-Kollaborateure. Die waren in einem gewissen Sinne noch schlimmer als die Deutschen. Sie griffen mich aus der Menschenmenge heraus und forderten mich auf, ihnen meinen Pass zu zeigen. Dann begann die Komödie – eine schlecht gespielte Komödie, muss man dazu sagen. Leise, gerade so, dass ich es hören konnte, unterhielten sie sich darüber, ob mein Pass gefälscht sei oder nicht. Sie hatten gar keinen besonderen Verdacht, es war ein grausames Spiel mit dem Ziel das Opfer nervös zu machen – um auf diese Weise, falls ihnen tatsächlich zufällig ein Résistancekämpfer mit gefälschten Papieren in die Hände gefallen sein sollte, diesen an der Angst zu erkennen. Ich legte mein gleichgültig-genervtes Gesicht auf. Dauert es noch lange? Ich hab’s eilig. Was man sich heutzutage nicht alles gefallen lassen muss! Ich sagte nichts, aber meine Mimik sagte alles. Ich bekam meinen gefälschten Pass zurück.

Die konnten ja auch nicht damit rechnen, ausgerechnet an einen der größten Mimen des Jahrhunderts zu geraten.

Wenn ich gebibbert und gezittert hätte vor Schreck, vielleicht wäre ich wie mein Vater deportiert worden?

Ausgerechnet in Deutschland feierten Sie 1951 Ihren internationalen Durchbruch, wurden hier zum Weltstar.

Das ist eine wichtiger Punkt. Ich bin oft von Freunden aus Frankreich daran erinnert worden, dass mein Vater von Deutschen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden ist. Sie fragten mich damals: Wie kannst du nur sechs Jahre nach dem Krieg an diesem grausamen Ort auftreten? An diesem Ort, wo noch viele Nazis leben? Aber ich sagte ihnen: Die Jugend hat mit diesem Krieg nichts zu tun gehabt. Sie sind nicht in der Gestapo gewesen. Ich wollte das Gute zeigen im Menschen. Deshalb ging ich nach Deutschland, wo ich von Bertolt Brecht begrüßt und umarmt wurde. Viele aufrechte deutsche Künstler kamen und nahmen es wahr, dass ich in ihrem Land auftrat.

Wie war Ihre Begegnung mit Brecht?

Brecht sagte mir damals: „Das Schwere ist einfach, aber das Einfache ist schwer. Sieht man einem Mörder im Gesicht an, dass er ein Mörder ist? Das Gegenteil sieht man in dem Gesicht des Mörders. Man sieht ein freundliches Gesicht. Ein Mörder ist keine Karikatur eines Mörders.“ Übrigens war Hitler stets sehr nett zu seiner Sekretärin.

Hitler und Chaplin kamen im gleichen Jahr zur Welt.

Ich war fünf Jahre alt, als ich zum ersten Mal Charlie Chaplin im Kino gesehen habe. Er rührte mich mit seiner Komik. Ich lachte, ich weinte, ich hielt den Atem an, ich wusste: dieser Mann hatte mir etwas zu geben.

Sie sind Chaplin dann ja begegnet, Jahre später, da waren Sie selbst längst berühmt.

Das war 1967 auf dem Pariser Flughafen Orly. Wir waren beide auf der Durchreise. Er war auf dem Weg in die Schweiz, wo er wohnte, weil er massive Probleme mit der McCarthy-Regierung gehabt hat, und ich war auf dem Weg nach Cinecittà, zu den Dreharbeiten von Roger Vadims klassischem Film „Barbarella“. Für mich war diese Begegnung wie ein Wunder, ein Moment, den mir niemand kaputtmachen durfte.

Chaplin war ein Bewunderer Ihrer Kunst.

Ja, und er erkannte mich sogar. Ich war in Begleitung von zwei Reportern und bat sie eindringlich, ihre Kameras nicht zu benutzen, weil ich den Moment unserer Begegnung nicht entwerten wollte. Ich wollte nicht, dass Chaplin denkt, ich sei eitel. Dann fiel mir nichts ein, was ich sagen sollte. Also spielte ich aus Verlegenheit den Tramp, die Rolle, die Chaplin berühmt gemacht hat. Und er ging neben mir her – und spielte die gleiche Rolle. In der Flughalle! Ich dachte währenddessen nur: Was habe ich Esel eigentlich die Fotografen zurückgepfiffen! Ich hätte ein wunderbares Bild als Andenken gehabt. Oona, Chaplins Frau, machte der Szene schließlich ein Ende, sie sagte: „Charlie, we have to go.“

Finden Sie heute, dass Sie hätten schlagfertiger gewesen sein müssen?

Was hätte ich zu Chaplin denn sagen sollen? Du bist der Größte? Du bist der Beste? Ich habe seine Hand genommen und sie geküsst. Da hat er eine Träne im Auge gehabt. Chaplin hatte damals gerade seinen letzten Film fertig gestellt, „Die Prinzessin von Hongkong“, das war kein großer Erfolg. Er wollte eigentlich weiter spielen, aber er muss wohl gespürt haben, dass er jetzt alt geworden war und niemand ihn mehr erkannte. Ich habe diese Geschichte damals niemandem erzählt, außer Vadim.

Warum nicht?

Ich hatte Angst, dass es mir als Eitelkeit ausgelegt würde. Aber Roger Vadim erzählte mir diese Geschichte: Als Michelangelo 78 Jahre alt war – das war das Alter von Chaplin, als ich ihn traf –, da war er ein Auslaufmodell, ein vieux chapeau. Er begann in Vergessenheit zu geraten, auch, weil es einen neuen Maler gab, der viel jünger war als er: Raffael aus Urbino. Raffael und Michelangelo begegnen sich in einer Kirche, in welcher Michelangelo mit Hammer und Meißel an einer Statue arbeitet. Raffael sieht den Altmeister, geht zu ihm und küsst ihm die Füße. Und Michelangelo weint. Die Moral von der Geschichte ist, dass er vor Glück weint, weil er in diesem Moment begreift, dass die junge Generation sein Erbe bewahren und seine Kunst nicht vergessen wird.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Kunst wird vergessen?

Nein. Meine Kunst wird weiterleben durch Mimen wie Alexander Neander, der bei mir an der Compagnie gelernt hat und der mit mir zusammen spielt. Entscheidend ist, dass man einen Meister und eine Schauspieltruppe hat. Ich hatte in Decroux meinen Meister, Neander in mir. Und ich habe im Übrigen auch kein Problem damit, wenn ich auf der Straße nicht erkannt werde. Ich bin ja kein Film-, sondern ein Theaterschauspieler. Mit der Pantomime haben wir ein spezielles Theaterpublikum, meine Kunst war noch nie so populär wie andere Künste, wie die Beatles etwa. Im Theater spürt man die Anwesenheit des Publikums. Man spürt, wie man das Publikum zum Lachen bringt oder berührt. Hinzukommt: Wenn man Filme macht, komische Filme oder tragische Filme, so wie Chaplin Filme gemacht hat, dann geht es in ihnen immer um das Sichtbare. In diesen Filmen gibt es Requisiten. Meine Spezialität jedoch ist die Unsichtbarkeit. Und das liebt mein Publikum an mir. Dass ich das Unsichtbare sichtbar mache. Für jede Handbewegung, die ich etwa zum Anzünden einer Zigarette benötige, gibt es eine perfekte Geste. Auf diese Weise kann ich rauchen so viel ich will. Alles ist sichtbar. Und doch nur Luft.

Woran erkennen Sie einen guten Pantomimen?

Am Timing. Ein Pantomime muss die Menschen rühren, darf keine Karikatur sein, muss tief sein. Auch wenn man lacht. Sie müssen sich einmal vorstellen, dass meine zwischenzeitlichen Spannungen mit Decroux unter anderem daher rührten, dass er für die strikte Trennung von Komödie und Tragödie war, während ich in der Tragikomödie die wahre Tiefe sah. Was haben wir uns nach dem Unterricht manchmal gestritten! Dabei war Chaplin immer der Verlierer, man konnte nie wirklich lachen, ohne dass man nicht zugleich mit ihm gelitten hat. Das war in meinen Augen Chaplins große Kunst. Es ging immer um Würde. Schlechte Mimen sind wie Karikaturen guter Mimen. Aber ein guter Mime wird auf der ganzen Welt verstanden.

Ist Michael Jackson ein guter Mime?

Er ist ein großer Tänzer. Immer wenn ich in Los Angeles aufgetreten bin, kam er zu meinen Vorstellungen. Er hat seinen „Moonwalk“ von mir adaptiert, es handelt sich um eine Abwandlung meines Kampfes gegen den Wind. Wir sind dann mit der Zeit Freunde geworden.

Wie hat man sich das vorzustellen – mein Freund Michael Jackson?

Das fing mit einem Telefonat an. Am Apparat war Michael. Er war freundlich wie alle Amerikaner. Er sagte: „Marcel, I would like you to play with me. I want to do a new show.“ Ich fragte ihn: „Will you direct it?“ Michael: „No, you will direct me.“ Er wollte, dass wir einen Song zusammen einstudieren, der nannte sich „Lost Childhood“. Also haben wir einen Vertrag aufgesetzt, wir sollten die Nummer in einer Fernsehshow von HBO spielen, dann fiel er jedoch während der Proben um und schlief auf dem Boden ein.

Er schlief ein?

Keine Ahnung, ob er Drogen genommen hatte? Nein, ich denke, er war einfach müde. Schade. Die Show wurde abgesetzt. Vor zwei Jahren dann hat er mich zu sich nach Hause eingeladen. Seitdem sind wir Freunde. Als er mich begrüßte, nahm er meine beiden Hände und sagte: „Diese Hände können Schmetterlinge sein.“ Ich erinnere mich noch, wie er mich an dem Abend fragte, ob ich meine Auftritte aufzeichnen würde, ob ich auch alles auf Film dokumentiert hätte. Das sei sehr wichtig meinte er, denn nur so, nur durch das filmische Dokument, den filmischen Beweis der eigenen Existenz könne man auf dieser Welt zu Geschichte werden, unsterblich werden.

Und das andere?

Er ist mein Freund. Ich bin sehr glücklich darüber, dass er in dem Prozess frei gesprochen wurde.

Haben Sie ihm zu seiner Freiheit gratuliert?

Nein, ich ihn nicht darauf angesprochen. Das ist einfach eine zu delikate Angelegenheit.

Tourdaten Marcel Marceau: 15.–17. 7. Komische Oper Berlin; 21.–26. 7. Philharmonie Köln; 29.–31. 7. Alte Oper Frankfurt; 2.–7. 8. Prinzregententheater München