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Archiv-Artikel

Das Gefühl, das eigene Herz zu spüren

Die Angst, der Zweifel und die Gefahr: Sie sorgen dafür, dass die Filme der französischen Regisseurin Claire Denis ihren charakteristischen Überschuss an sinnlichen und körperlichen Bildern bekommen. Mit dem Buch „Claire Denis. Trouble Every Day“ ist die erste Monografie auf Deutsch über sie erschienen

Die Reize, die Auge und Ohr ansprechen, fordern im synästhetischen Kino von Denis auch Nase, Zunge und Haut heraus

VON CRISTINA NORD

Wenn Filme wie Reisen sind, dann gibt es solche, die die Sicherheit eines All-inclusive-Pakets gewähren. Es gibt solche, die Entdeckerfreuden versprechen, jedoch darauf bedacht sind, dem Reisenden nicht zu viel der Fremde zuzumuten. Schließlich gibt es solche, die den Wagemut voraussetzen, die Gewissheiten des Alltags fahren zu lassen.

Wären sie Reisen, die Filme von Claire Denis gehörten zur letzten Gruppe. Schon was die Schauplätze angeht, zieht es die französische Regisseurin in entlegene Regionen: „L’intrus“ (“Der Eindringling“), der jüngste Spielfilm, beginnt in einem abgeschiedenen Alpental und führt über Genf und Südkorea bis in die Südsee. „Beau Travail“ (1999) schaut Fremdenlegionären in Dschibuti dabei zu, wie sie ihre Körper vergeblich gegen die Wüste stählen. „Chocolat“, ihr erster langer Film (1988), spielt in den 50er-Jahren in Kamerun. Ein Ort und eine Zeit, die der Regisseurin vertraut sind, verbrachte sie doch ihre Kindheit in der einstigen französischen Kolonie.

Auch jenseits der Handlungsorte ist die 47 Jahre alte Regisseurin eine Entdeckerin, insofern sie in Bezirke vordringt, wo die Selbstverständlichkeiten des Mediums Kino suspendiert sind. Ihre Figuren haben etwas Fließendes, es fehlt ihnen die Lust, sich den Anforderungen von Psychologie und Realismus zu beugen. Das Genre ist nicht die schützende Hülle, unter der sich die Wiederkehr des Immergleichen vollzieht, sondern entfremdet sich gleichsam von sich selbst – wie etwa in dem Vampirfilm „Trouble Every Day“, dessen Radikalität den Schrecken eines gewöhnlichen Horrorfilmes weit hinter sich lässt. Darüber hinaus hat Claire Denis eine eigenwillige Art, die Wirklichkeits- mit der Traumebene eines Filmes zu kombinieren. Was etwa in dem Film „L’intrus“ als Einbildung, was als reales Geschehen gesetzt wird, bleibt bewusst in der Schwebe.

Schließlich erkundet ihr Blick auf Körper, Gegenstände und Landschaften etwas, was man so im Kino kaum je sieht. In „Vendredi Soir“ (2002) zum Beispiel: Der Film erzählt die Geschichte eines Seitensprungs an einem Freitagabend in Paris. Dialoge sind rar, was zählt, ist, wie die Körper der Figuren aufeinander reagieren, wie zum Beispiel Jean (Vincent Lindon) mit der Hand über seine schlecht rasierten Wangen streicht. Solche Gesten verleihen dem Film eine bemerkenswerte Leiblichkeit. Kein Wunder also, wenn Jim Jarmusch, dem Denis assistierte, als er 1985 „Down By Law“ drehte, einem Buch über die Regisseurin eine hymnische Widmung vorausschickt: „Aus jedem ihrer Filme nehme ich etwas Neues mit – einen Ansatz oder eine Idee, auf die ich selbst vielleicht nie gekommen wäre.“

Dieses Buch ist die erste deutschsprachige Monografie über Denis und heißt „Claire Denis. Trouble Every Day“, herausgegeben von den Wiener Filmkritikern Isabella Reicher und Michael Omasta. Sie suchen nach Erklärungen für das, was das neue Neue, das Besondere der Regisseurin ausmacht. Darüber, wie sich Denis der Physis der Dinge annimmt, schreibt die Filmwissenschaftlerin Martine Beugnet mit Blick auf „L’intrus“: Der Film lote „jenes Territorium des Kinos aus, in dem sich Sinneseindrücke und abstrakte Konzepte innerhalb eines bildlichen Darstellungsmodus verbinden, wobei der Film mehr noch als ein ,Mindscreen‘ als eine Art ,Leinwand der Sinne‘ fungiert“. Die Figuren agieren weniger als Subjekte im herkömmlichen, eher „als Körper im chemischen Sinn“, als Körper, „die mit vertrauten oder fremden Umgebungen reagieren“. Tatsächlich vermittelt sich etwa, was in „Vendredi Soir“ zwischen Frau und Mann entsteht, nicht über Dialoge oder Erklärung, sondern – zum Beispiel – über das Geräusch von Jeans Hand an seiner unrasierten Wange. Beugnet erkennt hierin einen „Ansatz, bei dem Bedeutungen fast ausschließlich über Bild- und Ton-Affekte generiert werden – eine Art synästhetisches Kino“.

Synästhetisches Kino: Das bedeutet, dass die Reize, die Auge und Ohr ansprechen, bei Denis auch Nase, Zunge und Haut herausfordern. Die Filme entgrenzen die Wahrnehmung der Einzelsinne. Klar zutage tritt dies in den härtesten, den düstersten Szenen: In „Trouble Every Day“ etwa beißt Béatrice Dalle als Vampir Coré einem Jungen die Lippen und die Zunge weg, reißt ihm Löcher in die Schulter, bohrt mit ihren Fingern in der Wunde herum. Selbst wenn man den Film zum zweiten oder dritten Mal sieht und dementsprechend gewappnet an die Szene herangeht, mag man nicht hinschauen. Der menschenfresserische Akt hat eine über das Sichtbare hinausgehende Wucht; der Ekel ist zu groß. Ekel wiederum gilt als eine so elementare Reaktion, dass sie weniger dem Distanzsinn des Auges als der Nase und der Zunge zugeschrieben wird.

Zum Glück bietet Denis’ Oeuvre auch milderen Formen synästhetischen Empfindens an: Wenn sich Valeria Bruni-Tedeschi als Bäckersfrau in „Nénnette et Boni“ (1996) über die Auslage in der Glasvitrine beugt, dann meint man die rosafarbenen Angorahärchen ihres Pullovers zu spüren und den Duft von frisch Gebackenem zu riechen. Und in „L’intrus“ tastet die Kamera den Oberkörper der Hauptfigur Louis (Michel Subor) mit einer Hingabe ab, dass man die alt gewordenen Haut mit ihren Falten und Leberflecken zu berühren glaubt, genauso wie später die Wulst der Narbe, die Louis’ Brustkorb teilt. Ohne die Kamera Agnès Godards würde das vermutlich halb so gut funktionieren. Gemeinsame Lehrjahre und eine langjährige Zusammenarbeit verbinden die beiden Filmemacherinnen.

Je stärker Denis die Sinneseindrücke privilegiert, umso weiter drängt sie den dramaturgischen Aufbau und die Figurenpsychologie in den Hintergrund. In „L’intrus“ tauchen Gestalten auf, die ein Werwolf sein könnten – oder doch nur eine Hundezüchterin? Ein Racheengel, oder doch nur eine Hehlerin, die sich die Not von Flüchtlingen zunutze macht, um Organe zu verticken? Und ist Sydney, der Sohn des Protagonisten, am Ende wirklich tot? Oder ist die Leiche ein Menschenopfer in Louis’ Kopf? Das Aufregende ist, dass diese Unbestimmtheit nicht der Scheu, sich festzulegen, geschuldet ist. Vielmehr verleiht sie dem Film eine schillernde Qualität.

In dem Maße, wie Claire Denis’ Filme Neuland betreten, gerät auch das Gespräch mit ihr zur außergewöhnlichen Situation – jedenfalls dann, wenn man die Begegnungen zwischen Filmjournalisten und Filmemachern zum Maßstab nimmt, die sich normalerweise während Filmfestivals oder Promotionstouren ergeben. Als ich Denis im Februar im Berliner Savoy-Hotel treffe, hat sie gerade den Dokumentarfilm „Vers Mathilde“ über die Choreografin Mathilde Monnier im Forum der Berlinale vorgestellt. Wenn sie über sich und ihr Oeuvre spricht, hat sie keine einstudierten Sätze zur Hand. Sie stellt eine intime Atmosphäre her, indem sie das assoziative dem analytischen, sicheren Sprechen über ihre Filme vorzieht. Manchmal zögert sie, weil sie nach den richtigen Wörtern sucht, dann wieder prescht sie hervor, die Stimme rau, nicht laut, aber doch bestimmt. Ohne dass ich sie danach gefragt hätte, spricht sie über Zweifel, Fluchtgedanken und Gefahr. Was schmerzhaft ist, scheint sie nicht verbergen zu wollen. Vielleicht lag das daran, dass der Produzent Humbert Balsan, der die Finanzierung von „L’intrus“ besorgte, sich wenige Tage zuvor umgebracht hatte und sie unter dem Eindruck dieses Todes stand. Vielleicht war es aber auch ihre Art: nicht in Deckung gehen, auf professionelle Distanz pfeifen, abgezirkelte Frage-Antwort-Folgen langweilig finden.

Wie kommt sie zu ihren Bildern, zu ihren Geschichten? In „L’intrus“ etwa geht es um einen Mann, dessen Herz die Kraft verloren hat. Er wird ein neues Herz bekommen. Lose folgt der Film einem Buch von Jean-Luc Nancy. Der französische Philosoph hat selbst eine Herztransplantation erlebt und darüber geschrieben. Denis hat dieses Buch während der Dreharbeiten zu „Trouble Every Day“ gelesen. „Da lag ich also und las, sehr müde, und wissen Sie, ich habe mein Herz noch nie zuvor gespürt. Ich weiß, dass ich ein Herz habe.“ Denis atmet tief ein. „Manchmal spürst du deinen Bauch, aber dein Herz, das spürst du nie. Aber plötzlich hatte ich dieses Gefühl: Mein Brustkorb war wie ein Tal, ein Hohlraum, und etwas war darin. Ich war schockiert, als hätte ich etwas sehr Körperliches erlebt.“

Diese tiefe, körperliche Empfindung wollte sie auf den Film übertragen. Aber wie? „Wäre ich diesem Gefühl vollkommen treu geblieben, hätte ich mit der Kamera in eine Brust hineingehen müssen. Aber ich wollte nicht mit chirurgischen Einstellungen arbeiten. Also drehte ich in einem Tal, wo die Bäume wie die Rippen eines Brustkorbs waren.“ In diesem Tal in den französischen Alpen spielt der erste Teil von „L’intrus“. Früher lebte dort eine Tante Denis’; als Kind verbrachte Denis die Ferien bei ihr und ließ sich von den dunklen Bäumen Angst einjagen.

In „Vers Mathilde“ kommt es zu einem spannungsreichen Augenblick, wenn Mathilde Monnier an ihrer Choreografie, an den Tänzern und an ihrer Arbeit zweifelt. Solche Augenblicke sind Denis nicht fremd. „Der Zweifel“, sagt sie, „lauert immer in einer Ecke. Und dann fällt er mich von hinten an. Das ist der Augenblick, in dem alles, jedes kleinste Detail, sinnlos erscheint: Warum mache ich dies? Warum jenes? Warum dieser Film? Und warum so und nicht anders?“ Was hindert sie in solchen Augenblicken daran aufzugeben? „Der Druck der Produktion, des Budgets und der Verantwortung. Das ist dein einziger Freund, ein echter Verstärker, etwas, woran du dich festhalten kannst. Denn auf Talent kann man sich nicht verlassen, genauso wenig auf Ideen. Auf Stärke, Energie? Das reicht für zwei Tage und verpufft danach. Was dich am Laufen hält, das ist die Verantwortung.“

Wobei der Angst, den Zweifeln und der Gefahr eine wichtige Rolle zukommt: Sie sorgen dafür, dass Denis’ Filme den für sie charakteristischen Überschuss bekommen. Der wiederum verhindert, dass man sich bequem in den Filmen einrichten kann. „Fast unbewusst organisiere ich mich so, dass ich immer nah am Abgrund entlanggehe. Ich möchte, dass sich jeder dessen bewusst ist: die Filmcrew, die Schauspieler und natürlich der Produzent. Wir sollen wissen, dass uns die Gefahr im Nacken sitzt, damit es nicht nur darum geht, Bilder und Töne zu produzieren.“

Michael Omasta, Isabella Reicher (Hg.): „Claire Denis. Trouble Every Day“, Synema, Wien 2005, 164 Seiten, 18 €