: Gewinner auf die krumme Tour
AUS MONTDIDIERDOROTHEA HAHN
Das Rad ist weggeschlossen. Die Medaillen sind im Schrank verstaut. Die Fotos abgehängt. Den Inhalt der Hausapotheke hat die Drogenfahndung beschlagnahmt. Nichts erinnert mehr an die alte Karriere. Der neue Arbeitsplatz von Philippe Gaumont ist ein lang gezogener, blank geputzter Zinktresen im Café de la Gare. Links gibt es Rauchwaren. In der Mitte Alkohol. Rechts Pferdelottoscheine. Alles mit staatlicher Lizenz. Bezahlt hat Gaumont das große Lokal gegenüber dem backsteinroten Bahnhof im nordfranzösischen Provinzstädtchen Montdidier mit dem, was er als Radprofi verdient hat. „Geld ist das einzige, was am Ende bleibt“, sagt der 32-jährige Mann im hellrosa T-Shirt und hautengen Jeans. „Geld ist der Grund, weshalb ich heute nichts bereue.“
Zwischen 14 und 30 Jahre alt war Gaumont, als er ein Star war unter Frankreichs Radfahrern. Zuletzt zehn Jahre als Profi. Er war Experte für Zeitfahren und Bahnradfahren. Er gewann Bronze bei den Olympischen Spielen in Barcelona. Er siegte beim belgischen Rennen Gent–Wevelgem. Und er fuhr mehrfach die Tour de France für Cofidis. Das Unternehmen für Telefonkredite finanziert einen der starken französischen Rennställe. Damals lächelte Gaumont schüchtern aus tief liegenden Augen von den Sportseiten der Zeitungen. Wenn er mit seinem vom ersten Profiverdienst gekauften BMW in die Autowaschanlage fuhr, sprachen ihn Unbekannte an. „Ich war ein Gott“, sagt Gaumont heute.
Am 20. Januar 2004 wird er zusammen mit anderen Cofidis-Fahrern, die aus dem Trainingslager in Spanien zurückkommen, am Pariser Flughafen Orly festgenommen. Die Drogenfahndung hatte ihre Telefone angezapft. Gaumont ist schockiert. Und zugleich erleichtert. Noch bevor die Labortests Kokainspuren in seinem Haar und Anabolika in seinem Urin ergeben, packt er aus. Während seine Kollegen alles bestreiten, was angesichts der Labortests bestreitbar ist, erzählt er dem Untersuchungsrichter Details aus den Doping-Exzessen seiner letzten zehn Jahre. „90 Prozent aller Radprofis dopen“, wiederholt er in einem Interview. Er nennt die Präparate, die Orte, wo man sie bekommt, die Namen von Ärzten und Betreuern, die am Doping beteiligt sind.
Damit ist seine Radprofi-Karriere beendet. Cofidis kündigt Gaumont fristlos. Der Chef des internationalen Radsportverbandes UCI, Hein Verbruggen, nennt ihn einen „Lügner“. Kollegen und Vorgesetzte, die Tage zuvor beim Trainingslager in Spanien noch zusammen mit ihm Koffein- und Schlaftabletten genommen haben, bezeichnen ihn als „seelisch labil“ und „drogenabhängig“. Und der Sportarzt von Cofidis, der Gaumont zehn Jahre zuvor bei der allerersten Spritze spöttisch ausgelacht hatte, als der 20-Jährige ihm sagt: „ich möchte später Kinder haben“, schickt ihm ein Fax mit den Worten: „Jeder kann mal Fehler machen“.
Gaumont ist 30 und beginnt ein neues Leben. Ohne den Glamour und das Geld des Profiradsports. Ohne die Kollegen. Nachdem er zehn Jahre lang ständig unterwegs war, verbringt er nun seine Zeit in dem 6.000-Einwohner-Städtchen Montdidier. „Hier gibt es nichts“, sagt er über den Ort mit den zwei mittelalterlichen Kirchen, den Soldatenfriedhöfen und dem Bronzedenkmal für Parmentier, der Ende des 18. Jahrhunderts die Kartoffel in Frankreich popularisiert hat.
Ins 100 Kilometer entfernte Paris fährt Gaumont bloß, wenn ihn der Untersuchungsrichter einbestellt. Sonst steht er mit Gattin Elise hinter dem Tresen. Guckt auf einen Bildschirm am anderen Ende seines Lokals, über den unablässig Bilder von Pferderennen flimmern. Plaudert mit Kunden, die er seit der Schulzeit kennt. Vermeidet sorgfältig das Thema „Alkoholmissbrauch“, den er täglich auf der anderen Seite des Tresens beobachtet. Macht Mittags eine Siesta. Baut im Garten einen Pool. Und fährt in seiner Freizeit Enduro-Motorrad. Manchmal ist er sechs Stunden auf Waldwegen unterwegs.
Sein neues Leben nennt Gaumont „besser“ als das alte. „Freier“. Kein Sportdirektor und Trainer redet ihm mehr rein. Mit der Zigarette im Mund versichert er, er sei jetzt „clean“. Und dass er „ohne Rad“ nie Drogen genommen hätte. Seine Prioritäten: „die Gesundheit meiner Kinder, der fünfjährige Louis und die dreijährige Lucie, dass ich mich mit meiner Frau verstehe und dass das Geschäft läuft“. Seit eineinhalb Jahren will er sich nie – „kein einziges Mal“ – nach dem Rad zurückgesehnt haben. Auch von den Wänden des Café de la Gare ist es verschwunden. Das letzte Rad-Foto, das Kunden an der Wand über dem Tresen gesehen haben wollen, zeigte Jimmy Casper. Der zweite Radprofi aus dem Kleinstädtchen Montdidier hat früher oft mit Gaumont trainiert. Heute wechselt er die Straßenseite, wenn er ihm begegnet. An der Wand hängen jetzt Pferdelotto-Wimpel.
Als „Therapie“ für sich selbst – und damit sein Sohn Louis später verstehen kann, was dem Vater passiert ist – hat Gaumont ein Buch geschrieben. Genau genommen hat er es von einer Sportjournalistin, die ihren Namen nicht nennen will, schreiben lassen. „Gefangener des Dopings“, gerade rechtzeitig zur diesjährigen Tour de France erschienen, erzählt auf 302 Seiten, was zuvor schon die Justiz erfahren hat. Es ist ein Einblick in die geschlossene Welt der Profiradsports. Eine Welt, in der kerngesunde junge Männer ihre Tage mit bis zu 20 Pillen beginnen und später mit Spritzen in Bauchdecke und Venen fortsetzen. Darunter Medikamente, die für Alzheimer- und Rheumakranke gedacht sind, Schmerzmittel, Cortison, Wachstumshormone, EPO und Transfusionen zur Erhöhung des Sauerstoffgehalts im Blut, Appetithemmer, die Glücksgefühle erzeugen, Schlafmittel, die – überdosiert – aufputschen. Fünf Anwälte haben das Buch geprüft. Sie haben zahlreiche Namen herausgenommen, um Verleumdungsklagen zu verhindern.
Als er das Radfahren entdeckt, hat Gaumont keine Ahnung vom Doping: „Bei uns gab es nur die Lokalzeitung, ein Sportblatt und das Fernsehen. Doping war kein Thema.“ Die Eltern – der Vater Fabrikarbeiter, die Mutter Verkäuferin – sind stolz auf den 13-Jährigen, der schnell erste Siege bei Sonntagsfahrten holt: „Ich habe nicht geraucht, nicht getrunken und bin nicht in die Disco gegangen. Das war beruhigend für sie.“ Die Schule wird zur Nebensache. Gaumont ist überzeugt, dass er „den schönsten Sport der Welt“ macht. Mit 19 gewinnt er eine Medaille in Barcelona – „die einzige, die ich ohne Doping bekommen habe“. Danach wird er Profi.
„Wann legst du den nächsten Gang ein?“, fragen ihn Kollegen im Rennstall. Gaumont versteht schnell, was gemeint ist. Er bemerkt, dass niemand – weder die Sportler noch ihre Betreuer – das Doping kritisiert: „Die einzige Frage ist, wann man damit beginnt.“ Der junge Gaumont ziert sich nicht. Er will „Resultate bringen“. Will Geld verdienen. Will jedes Jahr einen neuen Vertrag bekommen. Hat angesichts des strengen Trainingsrhythmus „keine Zeit, Fragen zu stellen“. Gaumont lernt Tricks. Er reibt seine Hoden mit groben Salzkörnern ein, bis sie wund sind, und lässt sich dagegen eine – legale – Cortisonsalbe verschreiben, die bei Dopingtests dieselben Resultate bringt wie die illegalen Mittel. Der Radsport, so Gaumont heute, „ist ein Milieu, in dem sich kein moralisches Bewusstsein entwickeln kann“.
Die erste Amphetamin-Spritze erhält er von drei Radprofi-Kollegen. Anschließend feiern die jungen Männer die Nacht durch. Wenig später, im Sommer 1994, spritzt der Mannschaftsarzt dem jungen Gaumont die erste Dosis des verbotenen Cortisons Kenacort. Für den „Neo-Pro“, der binnen weniger Tage fünf Rennen fährt, ist es ein Initiationsritus. „Ich hatte das Gefühl, im Kreis der Großen angekommen zu sein“, erinnert er sich. Später wird er – auch auf ärztlichen Rat – bis nach Italien reisen, um sich dopen zu lassen. Auf manchen Ampullen stehen nur Buchstaben. Gaumont hat keine Ahnung, was „A“, „B“ und „C“ ist.
Während zehn Jahren als Radprofi lernt Gaumont hunderte Kollegen kennen. Darunter „nur drei Radprofis, die sich nie dopen“. Er selbst erwägt „kein einziges Mal“, mit dem Doping aufzuhören. Weder, als er 1996 wegen einer ersten Positiv-Kontrolle für sechs Monate ausgeschlossen wird, noch als 1998 Frankreichs Sportministerin Marie-George Buffet öffentlich den Kampf gegen Doping aufnimmt. In jenem Sommer fliegt während der Tour de France der Dopingskandal im Festina-Rennstall auf. Die Sportfunktionäre organisieren Seminare, um den Fahrern beizubringen, was sie auf Journalistenfragen zu Dopingfällen sagen sollen: „Ein Problem für den Radsport“. Und: „eine bedauerliche Ausnahme“. Das Dopen geht weiter. Fortan werden in den Begleitbussen die Vorhänge zugezogen, bevor die Sportler ihre Spritzen bekommen.
Die Sportärzte, die ihn betreut haben, sind die einzigen, denen Gaumont wirklich böse ist. Nicht wegen seiner Gesundheit. Die ist gut. „Noch gut“, sagt Gaumont. „Zehn Jahren Drogen hinterlassen zwangsläufig Spuren.“ Er nimmt den Ärzten übel, dass sie die Sportler „nie über gesundheitliche Gefahren“, sondern immer nur über das „Risiko, erwischt zu werden“, aufklären. Dass sie dank regelmäßiger Bluttests immer genau wissen, wie viel gedopt wird. Und – vor allem – dass manche von ihnen heute tun, als hätten sie schon immer gegen Doping gekämpft. Sein früherer Mannschaftsarzt Jean-Jacques Menuet ist einer von ihnen. Er arbeitet weiter für Cofidis und betreut französische Leichtathleten. Die Anklage gegen ihn ist zurückgezogen. Menuet hat sich herausgeredet: „Ich kann Radprofis nicht daran hindern, im Ausland Ärzte zu suchen.“
Für die Tour de France, die jahrelang das Ziel seiner Mühen war, hat Gaumont heute nur ein Wort: „Zirkus“. Während der drei Wochen wird in seinem Café ein kleiner Fernseher die Bilder von dem Zirkus übertragen. Gaumont wird von seinem Tresen aus „hingucken“. Aber an die Wegstrecke der Tour würde er sich selbst dann nicht stellen, wenn sie direkt durch Montdidier führte. „Typen zugucken, die mit 50 Stundenkilometern an mir vorbeirasen“, sagt er, „was habe ich davon?“
Wegen der EPO-Drogen, mit denen er erwischt wurde, steht Gaumont noch ein Prozess bevor. Er riskiert eine Haftstrafe auf Bewährung und Geld. „Nichts Großes“, sagt er. Als „schlimmste Strafe“ empfindet er seine eigene Lüge. Die zehn Jahre seines Lebens, in denen das Doping alles verfälscht hat. „Für manche Leute werde ich bis zu meinem Lebensende der Cycliste bleiben“, sagt er bitter. „Aber ich selbst werde nie wissen, was für ein Sportler ich tatsächlich war. Wie weit ich gekommen wäre, ohne zu pfuschen.“