: „Dafür hassen sie mich“
In der Türkei freuen sich Pamuks Weggefährten. Kritiker sehen in dem Preis den Lohn für einen Nestbeschmutzer
ISTANBUL taz ■ „Eine hervorragende Entscheidung“, freute sich gestern der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen. Er hatte gerade erfahren, dass Orhan Pamuk als diesjähriger Preisträger für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nominiert ist. „Das ist ein kritischer Preis“, sagte Sen weiter, „das wird Wellen schlagen.“
Gestern war davon in der Türkei zwar noch nichts zu bemerken. Doch Sen hat zweifellos Recht, wenn er meint, dass die Auszeichnung für Orhan Pamuk in seinem Heimatland nicht auf ungeteilte Begeisterung stoßen wird. Die türkischen Nationalisten werden die Verleihung, vor allem nach der Kontroverse um die vom Bundestag letzte Woche verabschiedete Armenien-Resolution, als Lohn für einen Nestbeschmutzer werten.
Orhan Pamuk ist kein Freund der Herrschenden. Seit Jahren macht er sich mit Kritik an undemokratischen Verhältnissen und Hilfe für die Unterdrückten der Gesellschaft unbeliebt beim politischen Establishment. Ein Schicksal, das er mit anderen großen Literaten der Türkei teilt, etwa dem Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 1997, Yașar Kemal.
Was die Ehrung gerade jetzt so brisant macht, ist die heftige Auseinandersetzung um die Armenienfrage. Seit Pamuk im Februar in einem Interview mit dem Magazin des Zürcher Tagesanzeigers über den Mord 1915 an einer Million Armenier sprach, wird er in weiten Kreisen der Gesellschaft als jemand bezeichnet, der seiner Nation in der Auseinandersetzung mit der armenischen Diaspora und dem Ausland „in den Rücken gefallen ist“, wie Justizminister Cemil Cicek sagte.
In dem Interview hatte Pamuk wörtlich gesagt: „Sehen Sie, unsere Vergangenheit verändert sich mit unserer Gegenwart. Was jetzt passiert, verändert das Gestern. Das eigene Verhältnis zum Land kann mit dem zur eigenen Familie verglichen werden. Man muss damit leben können. Beide sagen, es sind Gräueltaten geschehen, aber das soll niemand anders wissen.Trotzdem soll man darüber reden, jeder sollte das tun. Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich.“
Tatsächlich brach im Anschluss an das Interview eine Hasskampagne aus, die offenbar selbst Pamuk überraschte. Zwar wurde er in den großen Blättern nicht durchweg angegriffen, sondern auch von Kommentatoren verteidigt. Doch vor allem in der Provinz kam es zu geradezu skurrilen Anti-Pamuk-Aktionen, die so wohl noch keinem anderen türkischen Schriftsteller widerfahren sind. (siehe Text oben)
Der Grad der Erregung ist nur mit der großen Popularität des Autors erklärbar. Wie Faruk Sen erklärt, „kann man ja über Pamuk unterschiedlicher Meinung sein. Aber jeder liest ihn.“
Tatsächlich gehört Orhan Pamuk zu den ganz wenigen Schriftstellern, die in der Türkei Auflagen bis zu 100.000 Stück erzielen. Zu dem jetzt auch in Deutsch erschienenen Buch „Schnee“ von 2002 gab es in Istanbul eine Werbekampagne, wie man sie sonst nur bei der Einführung einer neuen Automarke erlebt. Und vor allem sein 2004 erschienenes kleines Istanbul-Buch, in dem Autobiografisches mit der Geschichte der Stadt verbunden wird, findet reißenden Absatz.
Obwohl sich sicher viele seiner Leser mit Orhan Pamuk über die Preisverleihung in Deutschland freuen werden, hat es doch auch einige seiner Mitstreiter auf dem Weg in eine demokratische Türkei irritiert, dass der Schriftsteller sich nach seinem Interview im Tagesanzeiger einer Debatte in der Türkei selbst verweigerte. Orhan Pamuk verschwand nicht nur für einige Wochen nach New York, was unter Sicherheitsaspekten ja nachvollziehbar war. Er wollte auch keiner türkischen Publikation – im Gegensatz zu amerikanischen oder deutschen Zeitungen – ein Interview geben.
Erst letzte Woche meldete er sich in einem anderen Zusammenhang in der politischen Auseinandersetzung in der Türkei wieder zu Wort: Gemeinsam mit türkischen und kurdischen Intellektuellen unterzeichnete er einen Aufruf an die kurdische PKK, ihre vor einem Jahr wieder begonnenen bewaffneten Angriffe einzustellen, die Waffen niederzulegen und den demokratischen Neuanfang im Südosten der Türkei nicht zu gefährden. JÜRGEN GOTTSCHLICH