: Strebsame Retter des großen Ganzen
Wahlalternative? Als populäre Antwort auf das allgegenwärtige Geschwätz des Neoliberalismus fungiert in Deutschland das romantische Ideal einer Gesellschaft, die keine Brüche aufweist. Dabei hat es die heile Welt der Vollbeschäftigung nie gegeben! Eine Lektüre der Programmentwürfe der WASG
VON MARK TERKESSIDIS
Seitdem eine Embryo-Partei mit der sperrigen Abkürzung WASG bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen offenbar beeindruckende zwei Prozent geholt hat, liegt ganz Deutschland im Fieber. Die Liaison mit der PDS tat ein Übriges: Die Linke ist zurück. Da zeigt sich selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung angetan. Der Neoliberalismus habe auf die wichtigen Fragen eben keine Antwort, konnte man da lesen – neue Ideen brauche das Land. Und die könnten durchaus von links kommen. Wird die „Wahlalternative“ diese Ideen liefern können? Das bisherige Auftreten der WASG mit ihrer Fixierung auf „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ deutet eigentlich nicht darauf hin. Die WASG vertritt primär die Sorte von Keynesianismus, die in der heutigen Sozialdemokratie keinen Platz mehr hat: Das Ziel ist Vollbeschäftigung, die Nachfrageseite soll durch die Erhöhung der Kaufkraft gestärkt werden, die Arbeitszeit gehört verkürzt, „ein großes, öffentliches Investitionsprogramm“ muss her und der Sozialstaat gilt als erhaltenswerte „zivilisatorische Errungenschaft“.
Diese Forderungen wirken rückständig. Nicht primär deswegen, weil eine solche Politik angesichts der Globalisierung nicht mehr möglich wäre – andere Länder haben Teile dieser Agenda durchaus gegen den neoliberalen Mainstream realisiert. Sondern weil die neue Mini-Partei sich in ihrem Programm bereits präsentiert wie eine „Volkspartei“ mit dem impliziten Anspruch, das große Ganze namens Deutschland vor der sozialen Spaltung zu retten. Als populäre Alternative zum allgegenwärtigen Geschwätz des Neoliberalismus fungiert in Deutschland weiterhin das romantische Ideal einer Gesellschaft, die keine Brüche aufweist. Einer Gesellschaft, die vor allem deswegen „integriert“ ist, weil alle ihre Mitglieder in Lohnarbeit stehen. Allein, diese Gesellschaft hat es nie gegeben. Die schöne Welt der „Vollbeschäftigung“ war auch eine Welt, in der Jugendliche mit den schärfsten Verhaltenszumutungen gequält wurden, in der Frauen als kochende Gebärmaschinen fungierten, die ansonsten schlecht bezahlt was „dazuverdienen“ durften, und in der MigrantInnen für Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt sorgten, indem man ihnen ihre Bürgerrechte vorenthielt. Wenn die WASG also jetzt von einem „Investitionsprogramm“ spricht, das die Nachfrage anregen soll – für wen soll da eigentlich investiert werden?
Wenn man die bisherigen Programmentwürfe liest, dann steigt das Unbehagen an zwei Stellen. Zum einen bleibt völlig unklar, welchen Begriff von Arbeit die neue Partei eigentlich hat; und zum zweiten gibt es keine ernsthaften Vorschläge, wie die Vielfalt in der Gesellschaft gestaltet werden soll. Zunächst wird durchaus darauf hingewiesen, dass die Erwerbsarbeit zunehmend differenziert, diskontinuierlich und prekär daherkommt, aber die Ausführungen wirken angelesen. Dass beim Thema Arbeit nicht nur über „Erwerbsarbeit“ gesprochen werden sollte, sondern auch über nicht entlohnte Tätigkeiten in Haushalt und Familie – davon hat die WASG bislang offenbar noch nichts gehört. Dass es in den „kreativen“ Berufen, deren Arbeitsverhältnisse ja zweifellos dazu tendieren, sich auszuweiten, eine zunehmende Verwischung von Arbeit und Freizeit gibt – kein Wort im Programm der „Wahlalternative“. Ebenso fehlt jegliche Reflexion darüber, dass es in den neuen Berufsbildern zwischen Medien und Callcentern ganz neue Anforderungen in Bezug auf die Einbringung von „Intelligenz“, „Affekt“, Spaß und Selbstverwirklichung in den Arbeitsprozess gibt – ein Aspekt, der in der globalisierungskritischen Bewegung etwa unter dem Begriff der „immateriellen Arbeit“ diskutiert wurde.
Dass all diese für die derzeitigen Verhältnisse so wichtigen Debatten überhaupt nicht stattfinden, ist umso erstaunlicher, als sich die WASG auf Schmusekurs mit den Globalisierungskritikern befindet. Freie Software, Umweltschutz, die Besteuerung von Devisenumsätzen – alles drin. Zu diesem Katalog der „korrekten“ linken Forderungen gehören auch die Bemerkungen über die Gleichstellung von Frauen und Minderheiten. Da kommt es der WASG in erster Linie darauf an, dass alle Zugang zur Erwerbsarbeit haben. Darüber hinaus gibt es recht dunkle Andeutungen über die „Revolution der Alltagskultur“ und die Kritik an der „männlich geprägten Erwerbswelt“; es gibt Rufe nach gleichen Rechten und dem Antidiskriminierungsgesetz, doch es fehlt an jeglichem Konzept über die Gestaltung einer Gesellschaft, in der Differenzen eine zunehmende Rolle spielen. Wie sollen Benachteiligungen beseitigt werden? Wie sollen Rechte ausgestaltet werden? Soll es ein „Mainstreaming“ geben in Bezug auf Geschlecht, Behinderung und Ethnizität? Oder was?
Nun sollte man einer neuen Partei vielleicht noch nicht vorwerfen, dass sie ganz am Anfang ihres politischen Prozesses noch keine Antwort auf alles und jedes hat. Doch von einer Partei, die sich als Anwalt jener betrachtet, „die durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen“ sowie „der Schwachen, der Armen, der Ausgegrenzten“ könnte man doch etwas mehr Nachdenken darüber erwarten, wie die Arbeit heutzutage funktioniert und auf welcher Grundlage eigentlich „die Armen“ und „die Ausgegrenzten“ eine gemeinsame Perspektive entwickeln könnten. Was haben ein 54-jähriger Mann, der vor einigen Jahren nach 30-jähriger Berufstätigkeit arbeitslos wurde und nun Alg II bezieht; eine Choreografin und Tänzerin mit Muskelatrophie, die gerade ein von der Bundeskulturstiftung gefördertes Projekt in Brasilien organisiert; und eine Frau mittleren Alters, die jeden Tag für einen schlecht bezahlten Job in der Schlecker-Filiale zwei Stunden mit dem Zug pendelt – was haben diese Leute eigentlich politisch miteinander gemein? In der globalisierungskritischen Bewegung wird seit geraumer Zeit über die „Multitude“ gesprochen, also über die Vielheit. In dieser Debatte ist sicher nicht alles Gold, was glänzt, aber zumindest werden die richtigen Fragen aufgeworfen.
Eine Rückkehr zur traditionellen Sozialdemokratie ist jedenfalls nicht möglich – zunächst müssten die diskriminierenden Voraussetzungen des „Modells Deutschland“ auf den Tisch. Aber ob die Bereitschaft zur Reflexion dieser Voraussetzungen bei der WASG steigen wird, wenn Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat fungiert, das darf man bezweifeln. Der sehnt sich in seinem Buch „Politik für alle“ nämlich zurück in die Zeiten der guten Patriarchen, die noch soziale Verantwortung übernommen haben – anstatt der heutigen Manager, so Lafontaine, brauche es wieder gestandene Persönlichkeiten wie Ferdinand Porsche, Gottlieb Daimler oder Werner von Siemens. Und Lafontaine macht auch klar, dass die „Gemeinschaft“, die er sich vorstellt, funktioniert wie ehedem – nämlich homogen nach innen und abgeschlossen nach außen. Lafontaine warnt vor dem Zerfall in „Parallelgesellschaften“, zitiert den Kulturclash-Beschwörer Samuel Huntington und findet es verheerend, dass Bush und Kerry im US-Wahlkampf ihre Latino-Wähler auf Spanisch angesprochen haben. Und schließlich hält er es angesichts der Arbeitslosigkeit im Lande für „fahrlässig und töricht, eine weitere Zuwanderung zu fördern“. Von „Wahlalternative“ also keine Spur.
In ihrer jetzigen Programmatik ist die WASG primär deswegen möglich, weil die deutsche Sozialdemokratie in diesen Tagen ein so erbärmliches Bild abgibt. Es fehlt einfach an jeglichem Konzept. Für die SPD gibt es bekanntlich nur noch „Sachzwänge“. Sie schwankt zwischen Appellen an das Gürtel-enger-Schnallen und dem Schimpfen über den bösen Kapitalismus à la „Münte“. Und während man den Leuten „Eigenverantwortung“ predigt, beraubt man sie gleichzeitig jeglicher Perspektive, denn man ruft ja nur zur Anpassung auf – an die Bedingungen, die der ferne Weltmarkt diktiert. Nun hat man in Deutschland oftmals die Nase gerümpft über Tony Blair. Doch die britische Sozialdemokratie hat durchaus ein Konzept – und zwar eines, das sowohl die Gleichheit als auch die Heterogenität in Betracht zieht. „Social inclusion“ nennen sich nämlich jene Programme, die auf der einen Seite im Bildungssystem für die Einbeziehung benachteiligter Gruppen sorgen sollen und auf der anderen Seite alle Institutionen der Gesellschaft im Sinne eines „Mainstreaming“ darauf überprüfen, ob sie der Vielfalt der Gesellschaft gerecht werden. Dabei hat die Blair-Administration die Hinterlassenschaften von Margret Thatcher nicht angetastet: Jeder muss ins neoliberale rat race. Doch die Labour Party hat daran gearbeitet, dass der Staat die Voraussetzungen für den Wettbewerb gestaltet, indem er dafür sorgt, dass zumindest alle die gleichen Chancen haben.
In diesem Sinne hätte etwa das Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland ein sozialdemokratisches Projekt werden können, wenn man es denn offensiv in den Dienst der Chancengleichheit gestellt hätte. In der Thematisierung der Chancengleichheit verbirgt sich eine Perspektive – das Versprechen auf soziale Mobilität. Eine solche Politik bedeutet aber, dass man anerkennen muss, dass die Gesellschaft nicht mehr eins und heil wird, sondern dass sie von Spaltungen und Differenzen aller Art durchzogen ist. Eine solche Politik hat akzeptiert, dass die „Integration“ der Gesellschaft kein Ziel mehr sein kann, sondern nur die sinnvolle Gestaltung der Vielheit. Freilich kann man ein solches Politikverständnis von weiter links scharf kritisieren. Aber dann hat man zumindest einen satisfaktionsfähigen Gegner.