: Für einen Extremismus der Kultur
Es gibt in Deutschland drei Typen von Kulturförderern: den Europaförderer, den Leuchtturmförderer und den Förderintendanten – und alle drei schaden sie je auf ihre Weise der bestehenden kulturellen Vielfalt. Eine Polemik in Sachen Kulturpolitik
VON LARS HENRIK GASS
Ob in Europa, in den Bundesländern oder bei einzelnen Stiftungen: Das, was zurzeit als Sparzwänge in der Kultur diskutiert wird, ist vor allem ein Wandel im Förderleitbild von bestimmten Bereichen öffentlicher Kulturförderung.
Der Europaförderer verteidigt Europa – gegen die Vormachtstellung der USA und gegen den Fundamentalismus der arabischen Welt. Seine Förderrichtlinien sind in erster Linie ein Normenwerk, ein Werk der Normierung. Sie sollen Europa eine europäische Kultur und Identität verleihen. Sie sorgen dafür, dass die Europäer europäische Kultur sehen, von Europäern gemacht. Die jüngst publizierte Studie der Kulturpolitischen Gesellschaft, „Braucht Europa eine Außenkulturpolitik?“, spricht dies unverblümt aus: Es gehe um eine „europaspezifische Wertegemeinschaft“.
Die Europäische Union verlangt zur Stärkung des europäischen Films von Filmfestivals, dass mindestens 70 Prozent europäische Beiträge im Programm vertreten sein müssen, überdies solle man sich in europäischen Netzwerken zusammenschließen und Programme austauschen. Wenn die Quoten nicht erfüllt sind, heißt es: Geld zurück. Mit 70 Prozent europäischen Beiträgen im Programm jedoch kann man das Prädikat „international“ kaum mehr glaubwürdig einlösen. Je größer, je mehr Fachpublikum, je mehr Beiträge aus entlegenen Winkeln der Welt, desto weniger kann ein Festival dies wollen. So kommt es zu der geradezu paradoxen Situation, dass gerade die wichtigsten internationalen Festivals mit den höchsten Ansprüchen solche Vorgaben kaum oder gar nicht einlösen können. Es sind Festivals, die sich allenfalls an ein lokales Publikum richten und Titel tragen wie „Mittelmeer-Festival“ oder „Festival des europäischen Films“, die höchste Förderung und Anerkennung aus Europa erhalten. Aber steigt europäische Bedeutung wirklich proportional zur Anzahl europäischer Beiträge?
Unter den Festivals werden solche politischen Direktiven kaum mehr hinterfragt. Bedingungslos kooperativ fügt man sich in die kaum mehr einzulösenden Vorgaben und beantragt frist- und formgemäß mit abnehmendem Erfolg schwindende Projektmittel. Je europäischer aber ein Projekt ausgerichtet ist, je mehr Netzwerke es durchlaufen hat, je mehr Geld für ein Film oder ein Festival aus Europa kommt, desto weniger erkennbar ist darin irgendeine Individualität. Es entstehen Förderfilme und Förderprojekte, die aussehen wie die Richtlinien, nach denen sie entstanden sind. Man investiert immense Zeit in Lektüre und Bearbeitung immenser Vertragswerke. Wahrscheinlich werden zwischen 20 und 30 Prozent einer Projektförderung mittlerweile für genau jene Administration aufgewandt, die eigentlich gar nicht gefördert werden soll.
Das Provinzielle an diesem Europaverständnis, dieses Verschwinden der Individualität, ist auch ein Ergebnis eines uneingestandenen Antiamerikanismus, der Europa zum kulturellen Bollwerk ausbaut, ein Europa, das sich hauptsächlich nach innen definiert. Aber ist das Europa, das wir gewollt haben, wirklich derart eindimensional? Es ist daher höchste Zeit für einen neuen Extremismus der Kultur, eine Kultur der Eigensinnigen.
Der Leuchtturmförderer möchte dem ewigen Klein-Klein in seinem Lande ein Ende bereiten und dafür sorgen, dass einzelne kulturelle Projekte weit über die Landesgrenzen hinweg ausstrahlen. Kultur soll attraktiv sein, das heißt Menschen anziehen und Aufmerksamkeit erregen, Medienecho und Reputation eintragen. Gleichwohl hat sich der Leuchtturmförderer nicht gefragt, ob all den Projekten, denen gegenüber ein Leuchtturm erforderlich sein soll, jemals die Mittel zur Verfügung standen, in dem gewünschten Maße auszustrahlen. Während zurzeit Mittel im Millionenbereich für die Bewerbung um die Kulturhauptstadt aufgebracht werden, wurde in den letzten Jahren gerade auf Länderebene bei der Kultur massiv eingespart. Ein Schreiben des Regionalverbands Ruhrgebiet macht deutlich, wie hier Prestigeobjekte zu Lasten der kulturellen Substanz ermöglicht werden: „Um die Bewerbungsbemühungen zur Kulturhauptstadt Europas nicht auf der Zielgeraden scheitern zu lassen, war eine Aufrechterhaltung des Förderetats für kommunale Projekte (…) nicht möglich.“ Im Klartext: Die Länder und Regionen bringen ihre eigenen Kulturprojekte gegenüber den Kommunen in Stellung: neuer, schöner, größer – alles auf Kosten der Substanz.
Die Verantwortung für die Institutionen, für Kontinuität und soziale Sicherheit der Mitarbeiter, die Substanz einer kulturellen Veranstaltung, die lastet allein auf den Kommunen. Lieber legt man so genannte „Initiativ-“ oder „Pilotprojekte“ mit schicken Namen auf. Es ist bereits Realität, dass der überwiegende Teil der Filmfestivals in Deutschland nicht durch Kulturförderung, sondern durch Eigeninitiative und die Bundesagentur für Arbeit aufrechterhalten wird. Das Problem der aktuellen Kulturförderung aber ist nicht so sehr der Mangel an Geld oder irgendeine obskure Kulturfeindlichkeit, sondern der Verlust eines konsistenten Förderleitbildes: Aus Kulturförderung wurde Imagepolitik.
Christian Thomas hat dies in FR „Branding als Leitkultur“ genannt: „Mögen im städtischen Schwimmbad die Bademeister fehlen, mag im kommunalen Kino die Leinwand schwarz bleiben (…): Die Kompensationsstrategie denkt in derart europäischem Großmaßstab, dass die Begründung nahe liegt, dass kein Tourist aus Athen oder Barcelona, London oder Warschau wegen der Badeanstalt nach Essen oder des Programmkinos Camillo nach Görlitz reist.“
Der strenge Verzicht auf „Branding“, der öffentliche Förderung traditionell einmal von Sponsoring unterschied, schwindet beträchtlich. Und genau dies hat beim dritten Typus des Förderers, dem Förderintendanten, ein bislang unbekanntes Ausmaß erreicht. Es handelt sich um eine Intendanz ganz neuer Art: nicht der Kunst verpflichtet, sondern der Alimentierung. Hier werden schwindelerregende Summen verwaltet. Doch die Sorge gilt vor allem der Frage, wie man selbst groß rauskommt. Förderintendanten schrecken nicht davor zurück, an Jurys teilzunehmen, die sie bezahlen. Sie stiften konkurrenzlose Preisgelder. Und das kann man sich auch leisten: Alle wollen vom Reichtum dieser Förderung profitieren, alle hängen von ihr ab. Man kann es sich sogar leisten, den Leiter einer Institution zu stellen, die man selbst fördert. Wer zahlt, bestellt. Einfluss ist alles.
Doch solcher Zentralismus in der Kultur hat dieser niemals gut getan. Die Mehrstimmigkeit der Kultur – dass also nicht einer diktiert, was Kultur für alle ist – war auch immer ein besonderes historisches Kapital des Föderalismus in Deutschland, sein Reichtum. In Zeiten der Sparzwänge gerät das als „Gießkannenprinzip“ in Verruf, und der Zentralismus erscheint als effiziente Lösung aller Probleme. Aber er hat nur die Abhängigkeit der Antragsteller erhöht und droht ein Klima der Angst und der kulturellen Uniformität zu befördern.
Obwohl die Fördermittel des Förderintendanten zum größten Teil aus Steuern oder Gebührenaufkommen stammen, sind sie einer direkten parlamentarischen Kontrolle fast völlig entzogen. Die Förderintendanten drohen allzu mächtig zu werden, sodass die Frage gestattet sein sollte, ob dies noch demokratischer Meinungsvielfalt und ihrem Auftrag selbst entspricht. Das, was Kultur sein soll, welche Schwerpunkte sie erhält, entscheidet jetzt der Förderintendant, nicht mehr die Politik, also das Volk. Kulturförderung wird zum Repräsentationszweck und Standorteffekt.
Der Autor ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen