: Das Privileg der Autoren
AUS CANNES CRISTINA NORD
Es war eine glückliche Entscheidung. Der Hauptpreis der 58. Filmfestspiele von Cannes, die Goldenen Palme, ging am Samstagabend an die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Schon einmal, vor sechs Jahren, konnten die beiden Belgier die Auszeichnung entgegennehmen, damals für „Rosetta“. Nun konnten sie mit „L'enfant“ („Das Kind“) die von Emir Kusturica geleitete Jury begeistern.
Ein verdienter Sieg: „L'enfant“, die Geschichte eines jugendlichen Drop-outs, der Vater wird, aber verantwortungslos bleibt, gehörte zu den stärksten Filmen des diesjährigen Wettbewerbs. Die Dardennes verstehen sich darauf, soziale Miseren und menschliches Versagen fürs Kino zu erschließen. Dabei werden sie niemals moralisch; je weniger sie beweisen wollen, umso beklemmender gerät das Resultat. Die Figuren kommen nie zur Ruhe, sie sind ständig in Bewegung. Die Kamera heftet sich an sie, nimmt Rücken, Hinterköpfe, Nacken ins Visier und protokolliert so eine nie endende Flucht. Die Räume – ein Versteck am Fluss, eine Schnellstraße, Garagen am Stadtrand, Ruinen des sozialen Wohnungsbaus – haben präzise Konturen, sie charakterisieren ein Milieu, ohne dass der Film überdeutliche Markierung nötig hätte. Zugleich verwahrt sich „L'enfant“ gegen jenen Sozialrealismus, der die Fiktion erstickt, indem er die Figuren ins Joch einer festgelegten dramaturgischen Rolle zwängt. Sowenig Spielraum Bruno, die Hauptfigur (Jérémie Renier), und seine Freundin Sonia (Déborah François) haben, bekommen sie am Ende doch die Möglichkeit, einen befreienden Schritt zu tun.
Die glückliche Juryentscheidung beschloss ein glückliches Festival – ließ das Wettbewerbsprogramm auch den einen, den herausragenden Film vermissen, der die Grenzen dessen, was man als Kino begreift, erweitert hätte. Das alljährlich wiederkehrende Gezänk zwischen Hollywood und dem Festival blieb aus, genauso wie ein wie auch immer gearteter Skandal. So herrschten beste Voraussetzungen dafür, dass man sich in Cannes ganz dem Kino hingeben konnte. Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter, setzte diesmal auf bekannte Autorenfilmer statt auf Experimente; das bescherte dem Festival zwar viele gute Filme verdienter Regisseure, aber auch wenige Überraschungen. Als Frémaux am Freitagabend das tollkühne japanische Waldgeister-Musical „Operetta Tanukigoten“ präsentierte, schickte er, während der über 80-jährige Regisseur Seijun Suzuki sowie die Hauptdarstellerin Zhang Ziyi noch neben ihm standen, vorsichtshalber voraus, dass es sich um einen sehr außergewöhnlichen Film handle. Wer davon überfordert sei, möge den Saal bitte so verlassen, dass er nicht vor der Leinwand entlanghuscht. Das Ungewohnte ist eben auch in Cannes nicht selbstverständlich, sosehr sich das Festival als Hochburg und Schutzraum der Filmkunst zu inszenieren versteht.
Schuld und Sühne
An der Qualität der einzelnen Wettbewerbsfilme änderte das nichts: Atom Egoyan, David Cronenberg, Gus Van Sant, Hou Hsiao-Hsien, Jim Jarmusch, Hong Sang-Soo und Michael Haneke konnten die Erwartungen, die sich an ihre Namen knüpfen, erfüllen und wurden dafür zum Teil mit Preisen belohnt (siehe Kasten), während Gus Van Sants „Last Days“, eine in ihrem Minimalismus großartige Variation der letzten Tage Kurt Cobains, leider leer ausging.
Was die Sujets anging, so kreisten viele Filme um Vaterschaft, noch häufiger aber handelten sie von Schuld und Sühne: Atom Egoyans „Where the Truth Lies“ lässt ein Jahre zurückliegendes Verbrechen in die Gegenwart der Figuren wirken. In Carlos Reygadas' „Batalla en el cielo“ („Schlacht am Himmel“) rutscht der Protagonist auf Knien der Jungfrau von Guadalupe entgegen, um für die Entführung eines Kindes Buße zu tun. In David Cronenbergs bemerkenswerter schwarzer Komödie „A History of Violence“ muss sich ein Mafioso, der sich längst qua Zeugenschutzprogramm eine neue Identität und eine schnucklige Kleinfamilie zugelegt hat, seiner Vergangenheit stellen. Bemerkenswert ist das insofern, als Cronenbergs Mise en Scène auf einem schmalen Grat balanciert: Dass der Film kein Drama, sondern eine Komödie ist, deutet er lange Zeit nur an. Während der Pressevorführung hielten viele Filmkritiker einige Überspitzungen für Zeichen unfreiwilliger Komik. Das daraus resultierende Gelächter führte zu einem Zwischenruf, der vermutlich ins Reich der Cannes-Legenden eingehen wird: „You fucking film critics pieces of shit, can't you take this seriously?“
In anderen Filmen erhielt die Schuldfrage eine politische Dimension. Ob das Zufall ist oder eine um zehn Jahre verspätete Antwort des Kinos auf postkoloniale Theoriebildung, ist schwer zu sagen; auffällig oft jedenfalls ging es um das, was die Theoretikerin Gayatri Spivak einmal als „Unlearning Privilege“, als das Verlernen des Privilegs, bezeichnete. Diejenigen, die dank Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Geschlecht Vorrechte genießen, müssen sich dessen in einem ersten Schritt bewusst werden und ihre Position in einem zweiten Schritt zugunsten der weniger Privilegierten aufgeben. Das ist leichter gesagt als getan, wie etwa Michael Hanekes Wettbewerbsbeitrag „Caché“ („Versteckt“) belegt. Der kreist um Georges (Daniel Auteuil), den Inbegriff eines arrivierten Intellektuellen im Paris unserer Tage. Er moderiert eine Literatursendung im Fernsehen, er hat eine perfekte Familie und ein nicht minder vollkommenes Heim. Doch eine Episode aus seiner Kindheit sucht ihn heim, und darin eingekapselt lauert die koloniale Vergangenheit Frankreichs. Georges' Eltern, Besitzer eines Gutshofs, adoptierten Anfang der 60er-Jahre einen algerischen Jungen, Majid. Dessen Eltern sind während einer Demonstration gegen das französische Kolonialregime in Algerien verschwunden – vermutlich von französischen Polizisten getötet und in die Seine geworfen. Georges, gerade sechsjährig, intrigierte gegen den ungeliebten Adoptivbruder, und der kam ins Heim. 40 Jahre später erhält Georges mysteriöse Videobänder, vermutet bald Majid als Absender. Ob das wirklich der Fall ist, lässt „Caché“ offen.
Vergangenheit ist nie begraben
Einen anderen Schauplatz von Machtasymmetrien wählt der Schauspieler Tommy Lee Jones für sein Regiedebüt „The Three Burials of Melquiades Estrada“: Der Film spielt an der Frontera zwischen Texas und Mexiko. Barry (Mike Norton), ein junger US-Grenzschützer, erschießt eines Tages Melquiades Estrada, einen mexikanischen Einwanderer ohne Papiere. Er büßt dies, insofern ihn der Film lächerlich macht: Er ist ein miserabler Liebhaber, er kompensiert seine sexuelle Frustration durch Schusswaffengebrauch, später muss er barfuß durch die Schluchten des Grenzlands humpeln und sich von einer Klapperschlange beißen lassen. Fast stirbt er, doch eine mexikanische Heilerin brennt den Schlangenbiss rechtzeitig aus, wobei ihre Lust an Barrys Schmerz unverkennbar ist. Am Ende bittet Barry den toten Estrada um Vergebung. Erzwungen hat diesen Lernprozess der in Würde ergraute Cowboy Pete. Tommy Lee Jones spielt ihn selbst und durfte für seine Leistung den Darstellerpreis mit nach Hause nehmen, Autor Guillermo Arriaga wurde für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Auch in Wim Wenders' „Don't Come Knocking“ blitzen die Verbrechen der Vergangenheit kurz auf: Ein Indianer lauert der weißen Hauptfigur, dem Schauspieler und Western-Darsteller Howard Spence (Sam Shepard), an einem Parkplatz auf: „Geben Sie mir 50 Dollar!“ Spence bietet ihm einen Dollar. Der Ablasshandel, der sich entspinnt, gewinnt leider weder eine realistische noch eine geisterhafte Qualität, sondern die einer deplatzierten Dreingabe.
Und schließlich ist da noch Lars von Triers „Manderlay“, der zweite Teil der mit „Dogville“ eröffneten Amerika-Trilogie. Diesmal geht es um Sklaverei. Auf einer entlegenen Baumwollplantage in Alabama herrscht sie noch Anfang der 30er-Jahre, obschon sie offiziell längst abgeschafft ist. Bis Grace (Bryce Dallas Howard) auftaucht und die Verhältnisse mit Gewalt umstößt. Wie schon in „Dogville“ arbeitet von Trier mit einem reduzierten, an eine Theaterbühne erinnernden Raum mit ein paar Kreidemarkierungen auf dem Boden, einem Fensterrahmen hier und einem Möbelstück da. Im Vorgängerfilm war diese Beschränkung neu und aufregend, nun hat sie etwas Vorhersehbares. Hinzu kommt, dass Nicole Kidmans Ausstrahlung „Manderlay“ fehlt.
Grace ihrerseits hat die Rechnung gemacht, ohne die Dialektik von Herr und Knecht zu berücksichtigen. Wollen die Sklaven wirklich frei sein? Diese zynische Frage stellt der Film immer wieder, und er kommt zu einem ernüchternden Fazit: Der Knecht braucht die Knechtschaft zum Überleben; er braucht den Herrn viel mehr noch als dieser den Knecht. Und derjenige, der wie Grace das Privilegiertsein verlernen will, wird mit Nachdruck dazu genötigt, es zu leben. Genau hierin aber liegt das Problem von „Manderlay“. Das Verbrechen der Sklaverei hat zu klare Konturen, als dass ein Film, der es in einen so hochgradig parabelhaften Raum überführt, wirklich glücken könnte.