: Ein Gefühl von Zukunft
Literatur des Übergangs, kühl, raffiniert und ernsthaft: Rainer Merkel, Martina Hefter und Claudia Klischat sorgen mit ihren Büchern für die Ehrenrettung der jungen deutschen Gegenwartsliteratur
VON GERRIT BARTELS
Zieht man dieser Tage eine erste Halbzeitbilanz dieses Bücherjahres und berücksichtigt insbesondere den Output der jungen Gegenwartsliteratur aus Deutschland, muss man – wie schon im letzten Jahr – konstatieren: Eine reiche Ernte war das nicht. Es überwiegt der Eindruck, die junge Literatur bewege sich im Kriech- und Siechgang durch die Gegenwart, mit viel Handwerk, viel Mittelmaß und viel Berührungsangst vor Spektakulärem genauso wie vor aktuellen Themen, die gewissermaßen auf der Straße liegen, etwa die neue soziale Unsicherheit oder die alternde Gesellschaft.
Außer Uwe Tellkamp mit seinem neokonservativen Roman „Der Eisvogel“ und vielleicht Eva Menasse mit ihrem Familienroman „Vienna“ hat aus der jungen Garde niemand für Aufsehen gesorgt bei Kritik und Publikum. Wobei auch Tellkamps Roman, bei aller Umstrittenheit, bei aller Konsequenz, mit der er die Popliteratur zu Ende denkt, im Literaturbetrieb für mehr Aufregung gesorgt hat als draußen an den Kassen der Buchläden. Aber immerhin: Die erste Auflage von 15.000 Exemplaren verkauft sich nach Angaben des Verlags gut.
Trotz dieses schlappen Eindrucks der jungen Gegenwartsliteratur ist da jedoch ein bisschen mehr, bestimmt da auch ein Uwe Tellkamp nicht allein einen Bücherfrühling, geschweige denn dass sich mit ihm eine Beschwörung des Konservativen auf breiter gegenwartsliterarischer Basis ablesen lässt. So gibt es in diesem Frühjahr drei aus dem Mittelmaß ragende Bücher jüngerer deutscher Autoren und Autorinnen, Bücher, auf die weder die abwertend gemeinte, in der Regel mit Handwerk und Mittelmaß assoziierte Bezeichnung „Literaturinstitutsliteratur“ passt, noch dass sie sich unter die vielen Bücher jüngerer Autorinnen über das Erwachsenwerden subsummieren ließen. Es sind dies Rainer Merkels Roman „Das Gefühl am Morgen“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main), Martina Hefters Roman „Zurück auf Los“ (Wallstein Verlag, Göttingen) und Claudia Klischats Roman „Morgen. Später Abend“ (Verlag C. H. Beck, München), und alle drei Romane demonstrieren gut, was die junge Gegenwartsliteratur gerade so umtreibt oder, im Fall von Claudia Klischat, was sie in Zukunft vermehrt umtreiben könnte.
Rainer Merkel hat mit „Das Gefühl am Morgen“ einen Roman über die Schwierigkeiten einer jungen Liebe und über einen Vaterkonflikt im Westberlin Ende der Achtzigerjahre geschrieben. Auch in Martina Hefters „Zurück auf Los“ ist eine Liebesbeziehung Thema. Allerdings ist diese mit dem Beginn des Romans schon zu Ende, was die Erzählerin zur Erinnerungsarbeiterin werden lässt und sie zu Reflexionen über das Verlassenwerden veranlasst, über Sicherheiten und ewige Ungewissheiten, überhaupt über die Weltverlorenheit eines jeden Einzelnen. Und Claudia Klischat wiederum begibt sich gar an soziale Brennpunkte, in die Welt der Pizzafahrer und Arbeitslosen, der Alkoholiker, Kleinkriminellen und psychisch Kranken.
Die Romane deuten allesamt an, dass die junge Gegenwartsliteratur im Moment eine Art Übergangsliteratur ist: Die Popliteratur war gestern, das Draufloserzählen auch, deshalb aber sind Kindheits- und Jugenderinnerungen sowie Beziehungsgeschichten lange nicht passé. Nur ist der Reflexionsgrad ein höherer geworden, stehen Stil und Form mehr im Vordergrund, wird auf unterhaltende Elemente weniger Wert gelegt. Lässt sich kaum sagen, ob das alles bald mehr in eine Punkrock- oder Rechtsrock-Richtung geht, also mehr gen „Die fetten Jahre sind vorbei“ oder „Der Eisvogel“, oder ob sich da bald eine richtige Weltferne entwickelt, eine Art Neoromantik, so weisen die Romane von Hefter, Klischat und Merkel zumindest auf die seit 2001 oft gesichtete „Neue Ernsthaftigkeit“ hin, als dessen oberster und jüngster Protagonist wiederum Uwe Tellkamp zuletzt gern bezeichnet wurde.
Nur hat die Ernsthaftigkeit eines Rainer Merkel oder einer Claudia Klischat so gar nichts davon, endgültig mit der Spaßgeneration abrechnen zu wollen oder sich im Droppen gesellschaftlicher Menetekel zu üben. Bei ihnen steht mehr die ernsthafte Arbeit am Text im Vordergrund, die auch inhaltlich manchmal ins Humorlose lappt; dazu kommt eine Mischung aus Harschheit und Unzugänglichkeit, die Weigerung, leicht zu entschlüsselnde Identifikationsangebote zu machen.
Rainer Merkels zweiter Roman mit seinem Setting aus Liebe, Familie und Achtzigerjahre wirkt da zuerst wie ein Rückschritt, weil Merkel mit seinem 2001er-Debüt „Das Jahr der Wunder“ auf Augenhöhe mit der Gegenwart war, mit einem Roman, der aus dem Inneren der New Economy kam, aus der Welt des „schneller, weiter, reicher“. Das hätte Merkel problemlos weiterschreiben können, zu erzählen gäbe es da eine Menge, die Wunden des Crash sind ja allenthalben zu spüren. Merkel aber hat lieber einen Gang rausgenommen und konzentriert sich in „Das Gefühl am Morgen“ auf Lukas und dessen lauernder, zögerlicher Liebe zu der Studentin Laura; einer Liebe, die schon bald der Belastungsprobe einer ungewollten Schwangerschaft nicht standhält.
Das ist thematisch das Übliche, zumal vor dem Hintergrund des Westberlins der späten Achtzigerjahre (den Merkel jedoch ohne grelle Achtzigerjahre-Requisiten ausgestattet hat); das entwickelt aber schnell seine Dynamik, als der Vater von Lukas auftaucht, ein erfolgreicher Psychoanalytiker. Und ein Übervater, der Lukas großzügig finanziell unterstützt, mit keiner Weisheit aus seinem Berufsleben hinterm Berg hält und unentwegt das Leben erklärt: „Beziehungen können viel Zeit in Anspruch nehmen“, oder „Es ist eine besondere Form des Narzissmus, wenn man zu viel Geld ausgibt“. Lukas wehrt sich, indem er Laura erklärt: „Ich analysiere ihn. Er ist wie eine Idee“, was nichts daran ändert, dass der Vater für ihn zumeist aus unüberwindbarem Fleisch und Blut ist.
Rainer Merkel, 1964 geboren und eher einer Generation angehörig, die ohne Väter groß geworden ist, da diese ausschließlich mit Arbeiten und Geldverdienen beschäftigt waren, entwickelt in seinem Buch den latent schwelenden Konflikt eines in den Achtzigerjahren Heranwachsenden mit seinen 68er-Eltern. Da steht die selbstgewisse Selbstverwirklichung des Alten, der versucht, diese auch seinem Sohn als Lebensmodell schmackhaft zu machen, gegen die Unselbstständigkeit und Orientierungslosigkeit des Jungen, der der Laisser-faire-Umklammerung seines Vaters nicht zu entkommen vermag. Dauerirritationen sind die Folge, auch für den Leser, der sich in diese fast hermetische Beziehung nur langsam einfühlt. Zudem hat Merkel seine Sätze psychologisch genau ausgetüftelt; er entwickelt eine Art Dauerspannung, die jedes Wort wichtig und gewichtig werden lässt – auch hinter einem beiläufig von Laura geäußerten Satz wie „Wir gehen in die falsche Richtung“ verbirgt sich gleich viel mehr: Lukas und Laura laufen zwar draußen im Wald, möglicherweise falsch, doch gerade hat Lukas von ihr erfahren, dass sie schwanger ist.
Bei Martina Hefter überzeugt gleichfalls das Ausgetüftelte der Sätze, selbst wenn diese schon mal in einem Satz-Nirwana landen; überzeugt der Versuch, den einen wirklich richtigen Satz zu schreiben, „der auf alles zutrifft“, den es naturgemäß aber nicht geben kann. Ihr Roman besteht aus vielen, in der Regel unwillkürlich zusammengesetzten Erinnerungsflicken der Ich-Erzählerin und aus dem, wie es einmal heißt, „Tagnylon“ und „Nachtnylon“, das Orte und Personen verknüpft, in dessen Fasern nicht nur Straßen, Telefonkabel und elektromagnetische Strahlen liegen, sondern „die Gedanken und auch die Worte“.
Mehr noch als die Lebensgeschichte von der Großmutter der Erzählerin oder die Geschichte von der Frau, die von ihrem mutmaßlich in Toronto untergetauchten Mann einfach so verlassen wurde – mehr noch als diese Geschichten aber beeindruckt, wie Hefters Text selbst zum Gegenstand des Erzählens wird. Wie Martina Hefter Trennungs- und Textentstehungsgeschichte vermengt, wie sie glaubt, dass „die Weggehenden in den Sätzen weggehen und diese mitnehmen“, oder für sie ein Wort wie „Cromargan“ das Höchste aller Gefühle sein kann.
Am Ende ist das alles ein Spiel mit Möglichkeiten: denen des Erinnerns, denen der Zukunft, schließlich weiß man nie, „wohin der nächste Tag einen bringen werde […] und diese Ungewissheit mache den Tag erst lebenswert“.
Was man Merkel oder Hefter leise, sehr leise vorhalten könnte, ist eine gewisse Unlebendigkeit ihrer Romane (die im engeren Sinn keine sind), das Fehlen von Lebensprallheit, auch ihre Kühle, ihre Raffinesse, ihr Hang zur Perfektion, wie es bei Martina Hefter bis in den Umgang mit den Zeitformen zu erleben ist. „Das Gefühl am Morgen“ und „Zurück auf Los“ sind zwingend aufgeschrieben, auf literarisch hohem Niveau, nur mitreißend sind sie nicht. Darin, dass sie keine Handlung vorantreiben, geschweige denn, dass sie spannungsreiche Plots entwerfen, dass sie sparsam bis gar nicht mit Dialogen umgehen, stehen diese Bücher stellvertretend für die junge Gegenwartsliteratur.
Nicht viel anders verhält sich das mit Claudia Klischats Roman „Morgen. Später Abend“, dessen drei große, aus der Perspektive jeweils einer Person erzählten Kapitel sich allesamt aufeinander beziehen. Mitreißender als Hefters und Merkels Romane ist „Morgen. Später Abend“ deshalb, weil Klischat mutig versucht, einen regelrechten sprachlichen Sog zu entfalten, mit vielen gezielten Redundanzen und Parataxen, eine Art inneren Bewusstseinssog, der etwa so klingt: „Und jetzt steigt sie in die Straßenbahn, und sie setzt sich auf einen Sitz, und da kommt von unten eine warme Luft, und die Luft macht ihren Hintern schön warm, und das wäre jetzt sehr schön für Babs Stanebein, und diese warme Luft am Hintern zu spüren, aber …“
In diesem Ton geht das den ganzen Roman lang, einmal mit Tom, dem psychisch kranken Pizzaausfahrer, der nach einer Nacht im Vollrausch im Bett einer fremden Frau aufwacht und sein Leben zu rekonstruieren versucht; dann mit Veit, einem jungen, psychisch auch nicht gesunden Kriminellen; schließlich mit jener Babs Stanebein, einer ältlichen Alkoholikerin, die Klischat einen Tag lang von ihrer Wohnung aufs Arbeitsamt und wieder zurück begleitet.
Es ist eine seltsam gefährdete und auch kaputte Welt, von der hier erzählt wird. Klischats Roman ist eine kleine Reise in die Finsternis, eine im Übrigen alles andere als Erlösung versprechende, wie der Verlag so schwadroniert; eine Reise, die nicht nur mitreißt, sondern auch anstrengt – so viel brutal assoziative und komplex auseinander fallende Bewusstseinsprosa will ausgehalten werden. Der Nachhall aber bleibt nicht aus, schließlich ist es auch die Welt, in der wir leben, die nur ein paar Schritte von unserer Haustür entfernt ist, in Leipzig genauso wie in München oder sonst wo. Und das zusätzlich Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass hier eine junge, 35 Jahre alte Autorin und ehemalige Filmhochschülerin, Tänzerin und Literaturinstitutsabsolventin einmal nicht ihr Ich und das ihrer Freunde streichelt und beschaut, sondern auf literarische Art Zeitdiagnostik betreibt und dabei ohne jedes Geraune auskommt.