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Archiv-Artikel

„Hitler wird vergleichbar“

INTERVIEW JÖRN KABISCH

taz: Herr Schivelbusch, Sie haben ein Buch über Niederlagen geschrieben. Die Niederlage vom 8. Mai 1945 bekommt da kaum Platz. Warum?

Wolfgang Schivelbusch: Ich fand seinerzeit, dass 1945 aus dem Rahmen fiel, eine Art Niederlagen-Posthistoire, dass sich das nicht vergleichen ließ. Das sehe in inzwischen etwas anders.

Sie haben sich die Niederlagen der Südstaaten 1865, der französischen Niederlage 1871 und Deutschland 1918 angesehen. Was ist der große Unterschied zur 45er-Niederlage?

Was mich interessierte, war, dass mit Anbruch des Massenzeitalters und der Demokratie seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kriegsniederlagen einen eigenen neuen Typ bekamen. Erst die Überzeugtheit von der Moralität der eigenen Sache bei Kriegsbeginn und dann diese absolute Fassungslosigkeit, dass die Siegerseite auf die Reduktion auf null bestand, das hat mich fasziniert. Aus diesem Modell fällt Deutschland 1945 raus.

Sie beschreiben, wie nach allen drei Niederlagen erst eine fast hysterische Euphorie über die „Befreiung“ bei den Unterlegenen einsetzte, die Gesellschaften dann aber ziemlich bald aus dieser „Traumzeit“ erwachten, die Niederlage realisierten und alle Illusionen über ihre „Befreier“ verloren. Für den 8. Mai 1945 lässt sich Gleiches nicht erzählen.

Nein, die gab es nicht. Große Zukunftspläne und die Anschauung, dass die Führung schuldig, die eigene Nation aber eigentlich unschuldig sei, existierten nach Kriegsende 1945 nicht, weil das moralische Selbstbewusstsein vollkommen weg war. Das verhinderte aber nicht, Hitler und sein Gefolge für die Schuldigen, sich selber für deren Opfer zu halten.

Nach kurzer Zeit gingen die Verlierer dazu über, in die Geschichte zurückzugreifen, neue Mythen zu bilden und die Geschichte der Nation neu zu erzählen. In Frankreich, erzählen Sie, wurde Jeanne d’Arc erst nach 1871 zur Nationalheiligen.

Ja, hier könnte es wieder interessant werden. Bisher gibt es für die bundesrepublikanische Mythenbildung keine Rückgriffe auf vor 1933 und nur ein paar Konservative, auf die niemand hörte, beschworen, dass man deutsche Geschichte insgesamt sehen sollte. Und auf einmal, an diesem 60-jährigen Jubiläum, an dem schon kurios ist, dass es ein solches Gewicht hat – das haben 60. Jahrestage eigentlich nie –, lese ich, man sollte sich auch einmal wieder auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation besinnen. Vor zehn Jahren wäre das noch ein Witz gewesen. Vielleicht könnte man sagen, dass die Traumzeit, die nach 1945 keine Sekunde hatte, sich nach einem Dornröschenschlaf von 50 oder 60 Jahren langsam regt.

Was ist dann der Aspekt, der Sie heute am 8. Mai interessiert?

Beispielsweise die Frage: Was wäre passiert, wenn Hitler gesiegt hätte? Man sieht das bei allen Eroberern – ob Alexander dem Großen im Orient oder dem Römischen Reich in Griechenland: Die Sieger stülpten den Besiegten nicht ihre eigene Kultur oder vielmehr Unkultur über, sondern verwuchsen mit der höheren Zivilisation der Besiegten. Und es stellt sich die Frage, ob auch der Nazi-Imperialismus angefangen hätte, die westliche Bequemlichkeit zu genießen, und daran zerfallen wäre.

Gilt denn für die Niederlage von 1945 dasselbe wie für die NS-Zeit. Dass Vergleiche anzustellen ein Tabu bedeutet?

Aber dieses Tabu existiert doch gar nicht mehr. Schon seit einiger Zeit kann man beobachten, dass die Geschichtswissenschaft hier zum „Everything goes“ übergegangen ist. Heute kann man sich bereits vorstellen, dass die NS-Herrschaft – natürlich stets minus Holocaust, der aus diesem Grunde ja zum eigenständigen Forschungsgebiet wurde – etwa mit dem römischen Kaiserreich verglichen wird. Sehr wichtig ist mir dabei, dass es zu einer Diskussion über die Gefahren und die Chancen der „Auslagerung“ der Holocauststudien aus der NS-Historiografie kommt.

Was ist der Grund für diese neue Leichtigkeit?

Das ist eine Folge der historischen Distanz. Die Zeitgenossen, deren Wahrnehmung noch stark von der Moral bestimmt war, sterben. Damit geht auch eine Zeit zu Ende, in der die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus zum Dogma erklärt werden musste. Ich bin sehr gespannt, wie sich das durchsetzt, welche Rückzugsgefechte der Moralgeschichte wir noch erleben.

Verstellt die Moral denn immer nur den Blick?

Ich finde, es ist nicht die Aufgabe des Historikers, Ach und Weh zu schreien, sondern zu beschreiben.

Auch Sie stellen in ihrem neuen Buch „Entfernte Verwandte“ Parallelen zwischen der Wirtschaftspolitik des New Deal, des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus dar. Hatten Sie dabei keine Manschetten?

Nein. Denn ich habe mich in meiner Forschung nie mit einem einzigen Gegenstand beschäftigt, sondern immer mit mehreren. Angestoßen haben das Buch zudem zeitgenössische Analysen, Darstellungen und Meinungen aus den 30er-Jahren, die so absolut dem widersprachen, was nach 1945 dazu gesagt wurde, zum Beispiel ein Churchill-Zitat von 1936 über Hitler. Churchill sagte damals ganz ohne Ironie: „Hitler ist der größte Glücksfall, den die Deutschen je hatten.“ Egal, was ich aufschlug: Der Nationalsozialismus und sein Führer waren, provozierend gesprochen, Mainstream. Daran heute zu erinnern war mir wichtig. Auch wenn Vergleiche immer nur in einem ganz engen Grad gemacht werden können.

Aber solche Vergleiche können instrumentalisiert werden. Wenn beispielsweise Sozialdemokraten von heute Unternehmer als unpatriotisch bezeichnen, wie es Roosevelt getan hat, und man bei Ihnen von Parallelen zum NS-Staat liest, ist es nicht mehr weit bis zum Faschismusvorwurf gegen Franz Müntefering.

Eine solche Gefahr muss man eingehen. Meine Frage war: Die Ausbeutung des besetzten Europas durch die Nazis, um Wohlstand und ein Herrschaftssystem zu stützen – war das wirklich einzigartig oder müssen wir bis in die Jetztzeit Parallelen ziehen? So sehr unterschied sich die NS-Ausbeutung Europas nicht von der rassistischen und mörderischen Ausbeutung der Dritten Welt seit dem 16. Jahrhundert durch den klassischen Kolonialismus. Wie überhaupt der Nationalsozialismus in vielem die Anwendung der Methoden des europäischen Kolonialismus auf Europa selber war. Ich bin überzeugt, dass irgendwann einmal die Dritte Welt dem Westen seinen Nürnberger Prozess machen wird. Und wir werden dann alle als die korrumpierten Nutznießer dieses Menschheitsverbrechens dastehen.

Gehört zum Ende des Vergleich-Tabus auch, dass vor diesem 60. Jahrestag auch viel von Opfern unter den Deutschen die Rede war und Opfergruppen auf einmal konkurrieren.

Das passiert eben, wenn die Dämme brechen. Dann kommt die Flut, die wesentlich schwächer ausgefallen wäre, wenn man sie von Anfang an zugelassen hätte.

War die Angst vor Revanchismus und Restauration nicht berechtigt?

Ich glaube schon, dass sich die Alt-68er – und zu denen gehöre ich auch – mit dem Vorwurf auseinander setzen sollten, sie hätten damals „zu viel unter den Teppich gekehrt“. Denn ich fürchte, wir werden sonst eine neue Blüte der Rechten erleben, wenn sie aufhört, ein Wahlverein für Skinheads zu sein.

Warum sehen Sie dafür Anzeichen?

Wir erleben ein neues Unbehagen an der Moderne als Standardisierung, Uniformierung und Globalisierung, und dieses Unbehagen zu formulieren ist seit dem 19. Jahrhundert die Domäne der Rechten, in der sie der Aufklärung in Krisenzeiten stets überlegen war. Zuletzt in den 30er-Jahren. Eine Organisation wie Attac ist heute der Versuch der Linken, Vielfalt zu bewahren. Dabei haben wir das klassische Territorium der Rechten vor uns, also des alten Konservativismus, der romantische Wurzeln hat. Und ich fürchte, dass die Rechte eine Chance haben wird, wenn sie den Fundus von antiglobaler Sehnsucht, Intimität und Vielfalt aufgreift.