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Archiv-Artikel

wie man einen sitzplatz ergattert von RALF SOTSCHECK

Die Londoner U-Bahn ist ein großartiges Transportmittel. Außer im Berufsverkehr. Ich bin um fünf Uhr nachmittags unterwegs von Camden Town nach Waterloo. Ich quetsche mich in den letzten Waggon und ziehe den Kopf ein, damit die automatische Tür, die oben schräg nach innen verläuft, mir nicht die Ohren abschneidet.

Mein Nachbar ist einen Kopf größer als ich und hält sich am oberen Griff fest, so dass mein Gesicht in seiner Achselhöhle eingebettet ist. Er schwitzt. Ich drehe mich nach links und bin auf Augenhöhe mit einem dänischen Touristen, der kurz zuvor eine Zigarette geraucht hat – für einen labilen Exraucher wie mich eine gefährliche Situation. Ich würde ihn am liebsten küssen, aber das würde er möglicherweise missverstehen. So drehe ich mich um 90 Grad und bin nun dem heißen Atem einer rothaarigen Knoblauchliebhaberin ausgesetzt, was die am wenigsten unangenehme Alternative ist.

Wenn man bloß einen Sitzplatz ergattern könnte. Doch wenn jemand aufsteht, stürzen sich fünf andere auf den Platz. Es geht zu wie bei der Reise nach Jerusalem. Mir fällt eine Buchbesprechung ein, die ich im Guardian gelesen habe. Hajime Yorozu hat die Bibel für Pendler in Tokio verfasst. Nun ist sie ins Englische übersetzt worden, denn sie ist für die britische Hauptstadt genauso gültig. „Sit Down on a Commuter Train“ verrät, wie man in einer vollen U-Bahn oder einem Zug zügig zu einem Sitzplatz kommt. Das Buch basiert angeblich auf einer wissenschaftlichen Studie über Passagierverhalten und Körpersprache. Es enthält Diagramme und mathematische Formeln zur Errechnung der Wahrscheinlichkeit, zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten und Konstellationen einen Sitzplatz zu erhaschen. Frauen haben dabei einen Vorteil, meint Yorozu: Sie können einen Make-up-Spiegel benutzen, um das Geschehen hinter sich zu beobachten. Für die Spiegellosen gilt: Wer auf die Uhr schaut, das Bahnhofsschild liest, gar das Buch zusammenfaltet oder die Beine auseinander faltet und die Aktentasche aufrecht stellt, ist ein sicherer Ausstiegskandidat.

Natürlich muss man auch den Handygesprächen lauschen. „Ich bin in drei Minuten am Bahnhof“ heißt, dass man sich neben den Sitz stellen und einen schmalen Ausgang in der anderen Richtung freilassen muss, damit kein Sitzräuber von dieser Seite kommen kann. Man muss aber auch seine Hausaufgaben machen: Man sollte lernen, welche Schuluniformen zu welcher Schule gehören, man muss wissen, wo die großen Firmen ihren Sitz haben, um an einen Sitz zu kommen.

Ich versuche, mich daran zu halten. Als eine junge Frau anfängt, sich Katzenhaare mit einer Klappbürste vom grauen Anzug zu bürsten, was in dieser Extremform nicht mal bei Yorozu vorkommt, bin ich bereit. Ich blockiere die Gegenrichtung, werde aber in letzter Sekunde von einem älteren Herrn, der in seinem Zustand ohnehin einen Sitzplatz angeboten bekäme, aus dem Weg gerammt. Was ist bloß aus der englischen Höflichkeit geworden? Oder ist Yorozus Buch dank des Guardian-Artikels auch in Großbritannien zum Bestseller geworden und hat die englischen Sitten verdorben?