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Archiv-Artikel

Frauen aus Kruppstahl

Was Krieg und NS-Diktatur aus unseren Vätern gemacht haben, ist hinreichend untersucht und benannt. Seltsam sprachlos aber sind wir, wenn es um die Rolle unserer Mütter geht – und damit um die seelische Hypothek einer Generation „harter“ Frauen

VON DIRK KNIPPHALS

Wir waren im Südosten Berlins unterwegs. Erst mit der S-Bahn nach Grünau, dann mit Fahrrädern weiter, die Dahme entlang und hinter Schmöckwitz zwischen dem Krossinsee und dem Zeuthener See hindurch. Eine schöne Gegend. Wälder. Landjugend, die in Büschen raucht oder von Brücken in begradigte Flüsse springt. Man denkt an Picknick und daran, sich ins Gras zu legen.

Einmal aber haben wir uns verfahren. Da sahen wir an einer Bushaltestelle eine alte Frau stehen. Wir fragten sie nach dem Weg. Sie erklärte ihn uns. Einer von uns seufzte: Das ist aber weit! Da hob die Frau unvermittelt an sich zu erinnern – und das Sommerliche dieses Tages kippte mit einem Mal ins Prekäre. Wir waren auf eine Botin aus der Vergangenheit gestoßen.

Fremdes Volk, die „Deutschen“

Und das ist, was die alte Frau sagte: weit? Das sei doch nicht weit. Schon gar nicht mit dem Fahrrad. Im Frühjahr 1945 sei sie diese Strecke zu Fuß gegangen, jeden Tag. Auch schon im Winter. Doch dann hätten die Deutschen die Brücke gesprengt – sie sagte tatsächlich „die Deutschen“, als handele es sich um einen fremden Stamm. Wer nicht rechtzeitig rüberkam, der habe hier bleiben müssen, bis die Russen kamen. Sie habe mit ihrer Mutter dann im Wald gelebt, mit vielen anderen Menschen zusammen. Auch hätten die Deutschen an der Brücke noch zwei Leute erschossen, Soldaten, die nicht mehr mitmachen wollten. Die seien in den Wald gelaufen, und dann hätten die Deutschen ihnen in den Rücken geschossen. Nichts zu essen hätten sie dann gehabt, als sie im Wald waren, die Mutter habe sehr geweint, und die Russen seien sehr böse gewesen über die gesprengte Brücke …

Die Frau – etwa 75, klein, einfach gekleidet – hörte gar nicht mehr auf zu reden. Schon nach den ersten Sätzen hatten wir begonnen, uns unbehaglich zu fühlen. Nicht nur wegen des Erzählten selbst, deswegen auch –, aber vor allem wegen der Unerbittlichkeit, mit der sie erzählte.

Eis und Stahl war diese Frau. Sowohl ihre Stimme als auch ihre Haltung hatten eine Härte und eine Kälte, die einen frösteln machte. Da war nichts Mitleiderheischendes. Sie wollte auch nicht ins Gespräch kommen. Keinen Widerspruch duldend sagte sie im Grunde nur das eine: Stellt euch nicht so an, Kinder, das Leben ist kein Zuckerschlecken, es auszuhalten ist alles.

Kälte, getarnt als Selbstlosigkeit

Härte und Kälte, das sind die Stichwörter. Ich gebe zu, dass diese Episode bei mir in einem bestimmten Verständnishorizont eingebettet ist. Mich treibt bei der Frauengeneration, die den Weltkrieg als Mädchen gerade noch miterlebt hat, etwas um. Nennen wir es, um das Wort Verdacht zu vermeiden, eine These. Diese These lautet, dass diese Frauengeneration überproportional gekennzeichnet ist durch eine Mischung aus aggressivem Entsagungswillen – der nicht nur still entsagt, sondern das Entsagen auch als Forderung an andere Menschen weitergibt – und einer Kälte, die sich als Selbstlosigkeit nur tarnt und in Wirklichkeit eine Unfähigkeit ist, auf sich selbst zu gucken. Diese These fand ich an diesem Nachmittag bei der Frau an der Bushaltestelle bestätigt.

Kalte, verhärtete Frauen? Das klingt zunächst seltsam und pauschal. Ich glaube allerdings mittlerweile, dass wir es nur nicht gewohnt sind, von Frauen in einer solchen Weise zu sprechen. Bei Männern dagegen schon. Klaus Theweleit etwa baute sein ganzes Frühwerk auf der Analyse der gestählten männlichen Soldatenkörper auf, Frauen dagegen ordnet er einem Wärmepol zu. Während die Männer und Väter in den Sozialwissenschaften dekonstruiert worden sind, was die einschlägigen Theorien nur hergaben, sind die Frauen und Mütter seltsam ungeschoren davongekommen. Natürlich hat es viele Einzeluntersuchungen gegeben, aber zu einer systematischen Aufarbeitung zusammengeschlossen haben sie sich, wenn ich recht sehe, nicht.

Ich würde hiermit gern anregen, das nachzuholen. Schließlich: Warum sollen nur die Männer von Nazizeit und Krieg deformiert worden sein, die Frauen aber nicht? Dafür spricht nichts – und die Zeit, da man Täterschaft pauschal den Männern und den Opferstatus den Frauen zuordnete, sollte vorbei sein. Stimmt schon: kalte, harte Frauen - das hat offensichtlich etwas Peinlichkeitsbesetztes. Man redet irgendwie nicht gern drüber. Vielleicht aber sollte man sich von diesen Abwehrreflexen nicht mehr leiten lassen.

Es ist ja so, dass diese Themen sonst irgendwie verquer bearbeitet werden. Zum Beispiel wie bei Hannelore Kohl. Sie war die Figur, bei der sich unsere Öffentlichkeit bislang am empathischsten an die Themen Kälte und Härte angenähert hat. Nach dem Selbstmord der Kanzlergattin wurde klar: Diese Frau, 1933 geboren, wegen ihres freundlichen Lächelns von links-alternativen Kreisen gern verspottet, hatte in Wirklichkeit mit zusammengebissenen Zähnen gelebt. Wer es auf sich nimmt, das Buch zu lesen, das ihr Sohn Peter Kohl damals über sie veröffentlichte, sieht sich sogar mit einer wahren Feier ihres Durchhaltevermögens konfrontiert. Stellvertretend für viele ein Zitat ihres Arztes Professor Möbius: „Frau Kohl besaß eine hohe Schmerztoleranzgrenze, und im Gegensatz zu vielen Menschen klagte sie selten.“ Das war als Lob gemeint!

Was hat Hannelore Kohl mit der Frau an der Bushaltestelle gemein? Es ist, scheint mir, dieselbe Härte, dieselbe Kälte. Irgendetwas hat diese Frauen zu Ertragensmaschinen zugerichtet. Was? Bei Hannelore Kohl hat niemand ihre Härte sich selbst und anderen gegenüber wirklich mit der Lichtallergie erklären können, die offiziell als Grund ihres Freitods angegeben wurde. Ihr Mangel an Emanzipation, ihre Nöte an der Seite des häufig abwesenden Mannes wurden auch genannt. Außerdem wurde auf Andeutungen verwiesen, die Hannelore Kohl in einem Interview gemacht hat und die nahe legen, dass sie am Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden war. Vergewaltigungen lassen sich auch in der Erzählung der Frau von der Bushaltestelle als Hintergrund ausmachen: Die Russen waren „böse“, die Mutter „weinte“. Ist das der Punkt?

Zumindest ist das der Stand, an dem die deutsche Öffentlichkeit gerade in ihren Erinnerungsbemühungen steht. Wenn derzeit von Frauen die Rede ist, die seltsam kalt und hart agieren, dann im Zusammenhang mit den späten Kriegswochen. Was für überfordernde Lebensumstände da herrschten, kann man etwa in dem Buch „Schweres Gepäck“ von Helga Hirsch nachlesen. Hirsch schreibt, dass man damals Teile seiner Gefühle förmlich „einfror“.

Ohne Schmerz und Schwäche

Aber, so tief die Traumata sein mögen, erklären Flucht und Vertreibung wirklich alles? Wer sich derzeit in den Büchern ein wenig umschaut, stößt jedenfalls auf Hinweise für andere Ursachen. Den ersten Hinweis gibt schon das genannte Buch von Peter Kohl. Über das Verhältnis von Hannelore Kohl und ihrer Mutter heißt es: „Die Disziplin, Schmerzen nicht zu zeigen, hat ihr die Mutter beigebracht. Weil sie sich selbst keine Schwäche erlaubt, verlangt sie das auch von der Tochter und ihren Freundinnen. Irene Renner [die Mutter; D. K.] ist streng, und die Kinder haben Respekt vor ihr.“ Kann man deutlicher auf einen aggressiven Entsagungs- und Durchhaltewillen anspielen? Vielleicht ist ein Teil dieser Frauengeneration geradezu zu Kälte und Härte erzogen worden?

Der zweite Hinweis stammt von Uta Ruge. Die Journalistin hat in dem Buch „Windland“ ihre eigene Familiengeschichte während der Nazizeit auf Rügen aufgearbeitet – das einzige mir bekannte Beispiel, in dem direkt die NS-Erziehung der eigenen Mutter beschrieben wird. Uta Ruge schreibt über ihre Mutter: „Am Ende des Arbeitsdienstes ist aus dem schüchternen, traurigen Mädchen von Nobbin eine jener Angst einflößenden jungen Frauen geworden, deren Anblick uns Nachgeborenen den Schrecken in die Glieder fahren lässt.“ Von wegen Wärmepol: Stahl und Eis.

Die Haare zu Berge stehen lässt einen eine Studie von Gregor Dill mit dem Titel „Nationalsozialistische Säuglingspflege“. Der Autor geht darin den Beziehungen zwischen Müttern und Kleinkindern während der Nazizeit nach, und wenn er nur ein wenig Recht hat, dann ist es kein Wunder, wenn man Kälte und Härte spürt: Dill zufolge sind sie im Nationalsozialismus systematisch während der Säuglingspflege eingesetzt worden.

So war es üblich, das Baby nach der Geburt erst einmal einen Tag von der Mutter zu trennen, ausdrücklich deshalb, um eine emotionale Bindung zwischen ihnen zu erschweren. Anhand des damals unvermeidlichen Ratgeberbuchs „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der NS-Autorin Johanna Haarer verdeutlicht Dill, dass „physische Trennung und emotionale Distanz als bestimmende Beziehungsprinzipien zwischen Mutter und Kind“ prägend waren. Gefühle sollten bei der Betreuung von Kleinkindern keine Rolle spielen, bei der Einhaltung von Schlaf- und Stillzeiten sollte große Härte walten. Übrigens wurde Johanna Haarers Ratgeber noch in den Siebzigern unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ verkauft.

So weit mögliche Hintergründe zur sommerlichen Begegnung an der Bushaltestelle. War sie, war Hannelore Kohl, sind noch so viele andere Frauen dieser Generation traumatisiert? Oder sind sie so, wie sie sein sollten: kalt und hart? Mit Flucht, Vertreibungen und Vergewaltigungen als Rahmengeschichten solcher Episoden zu rechnen, das immerhin hat man schon mal gelernt. Mit der Nazi-Erziehung zu Kälte und Härte allerdings noch nicht so recht.

Am Abend des Sommertages damals habe ich mich übrigens geärgert, die Frau nicht gefragt zu haben, wohin sie mit dem Bus fahren wollte. Zu ihren Enkelkindern?

Eine ungekürzte Fassung dieses Artikels erscheint heute im taz-Journal zum Jahrestag des Kriegsendes. „Die Macht der Erinnerung – der 8. Mai und wir“ gibt es zum Preis von 8 € am Kiosk und im taz shop (shop@taz.de)