: „Deponieren Sie 100.000 Dollar unter der Fußgängerbrücke“
Erinnerungen eines KGB-Offiziers: Viktor Tscherkaschin betreute in Washington die US-Maulwürfe Aldrich Ames und Robert Hanssen und gelangte so an hoch brisante Geheiminformationen. In „Spy Handler“ beschreibt er den Spionagealltag und liefert Diskussionsstoff über Sinn und Unsinn der Geheimdienste
VON PETER MÜNDER
Nach den Terrorattacken vom 11. September und dem desaströsen Versagen der US-Geheimdienste, die sich dann auch noch für die Desinformationen über irakische Massenvernichtungswaffen und einen Präventivkrieg im Irak einspannen ließen, waren die Forderungen nach grundlegenden Reformen der Dienste unüberhörbar geworden. Neue Chefs wie Porter Goss (CIA) und der dubiose Bush-Kumpan John Negroponte, der auf seinen Botschaftsposten bestens über die Iran-Contra-Machenschaften sowie CIA-Putschaktionen und Menschenrechtsverletzungen in Mittelamerika informiert war und darüber nie ein Wort verlor, jetzt aber zum Oberaufseher über fünfzehn Dienste und einen 40-Milliarden-Dollar-Etat avancierte, sollen es nun richten.
Die Inkompetenz und Schlamperei, die Konkurrenzkämpfe der großen Dienste CIA (Central Intelligence Agency), FBI (Federal Bureau of Investigation) und NSA (National Security Agency) werden sich mit dem alten „Mehr Geld, mehr Leute, mehr Hightech“-Rezept jedoch nicht abstellen lassen. Schließlich wurden die Geheimdienstchefs schon immer als verlässliche Erfüllungsgehilfen von der politischen Kaste eingesetzt, um die Vorgaben aus dem Weißen Haus, dem State Department und dem Pentagon ohne große Reibungsverluste zu erfüllen, wie mehrere Bücher amtsmüder und frustrierter ehemaliger CIA-Agenten (Robert Baer: „Der Niedergang der CIA“, Milt Bearden: „Der Hauptfeind“, Michael Scheuer: „Imperial Hybris“) zeigen.
Über desillusionierte KGB-Mitarbeiter und den Alltag russischer Geheimagenten ist bisher allerdings wenig bekannt geworden. Wie das vor kurzem in den USA erschienene Buch des Ex-KGB-Manns Wiktor Tscherkaschin zeigt, unterscheidet sich sein Schicksal nicht allzu sehr von dem seiner US-Kollegen. Auch beim KGB lauerte die Paranoia immer und überall; Lenins Devise „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ wurde als richtungsweisende Maxime verinnerlicht. Natürlich bestand eine Hauptaufgabe darin, den Gegner durch Unterwanderung und Abwerbung zu schwächen. Allerdings war es auch gefährlich, die Seiten zu wechseln und als Verräter entlarvt zu werden – das bedeutete meistens die sofortige Exekution.
Seinen „Jackpot-Tag“ im Oktober 1985 werde er nie vergessen, schreibt Tscherkaschin in „Spy Handler“. Jahrelang hatte der an der sowjetischen Botschaft in Washington eingesetzte KGB-Spezialist für Gegenspionage versucht, mit allen möglichen Tricks und üppigen Dollarbündeln amerikanische Agenten zum Überlaufen zu überreden, und nun flatterte ihm ein anonymer Brief ins Haus, in dem die Namen von drei für die Amerikaner spionierenden russischen Verrätern genannt wurden und Top-Secret-Informationen über US-Satellitenspionage und die Budgets von NSA, CIA und FBI sowie des US-Militärgeheimdienstes DIA (Defense Intelligence Agency) aufgelistet waren. Der Informant stellte „längerfristige Beziehungen“ in Aussicht und schloss mit der Aufforderung: „Deponieren Sie 100.000 Dollar unter der Fußgängerbrücke im Northern Virginia State Park – diese Summe halte ich angesichts dieser Informationen für gerechtfertigt.“
Erst wenige Monate zuvor hatte der KGB-Mann vom CIA-Superspion Aldrich Ames ein ähnlich sensationelles Angebot bekommen, was sich als einzigartiger Glücksfall erwies. War es möglich, dass er schon wieder so einen Coup landen konnte? Nach Rücksprache mit der Moskauer Zentrale entschloss sich Tscherkaschin, auf das Angebot einzugehen. Da er jedoch nicht ohne Gesichtsverlust alle Forderungen des Informanten akzeptieren konnte – dessen Entscheidung, anonym zu bleiben und nur über den toten Briefkasten zu kommunizieren, ging dem Russen furchtbar gegen den Strich –, entschloss er sich, nur 50.000 Dollar zu bezahlen. Mehr hatte CIA-Mann Ames beim ersten Kontakt auch nicht erhalten.
„The Source“ (Die Quelle) entpuppte sich als wahre Goldmine. Die geheimsten amerikanischen Weltraum- und Satellitenspionageprojekte, sogar die Planungen des Weißen Hause für die Fortführung der Regierungsgeschäfte nach einem Atomschlag – im Ernstfall für den Gegner von existenzieller Bedeutung – lieferte der Informant an den KGB. Bald hatte sich eine Routine im Umgang mit dem anonymen Spion entwickelt, den der Russe nie traf und dessen Identität er erst nach dessen Enttarnung sechzehn Jahre später erfuhr. „The Source“ versteckte einen Plastiksack mit den Geheimdokumenten in seinem bevorzugten toten Briefkasten unter der Parkbrücke, die Russen deponierten dann die Dollarnoten. Mit weißem Klebeband am Parktor wurde jeweils signalisiert, ob die Ware hinterlegt war oder ob ein Termin geplatzt war. Damit verstieß der FBI-Mann, dessen Namen Tscherkaschin nach seiner Verhaftung als Robert Hanssen aus der Presse erfuhr, zwar gegen alle Geheimdienstregeln. Aber diese klandestine Kooperation war äußerst erfolgreich: Hanssen wurde erst im Februar 2001 nach dem Leeren seines toten Briefkastens gefasst, nach 21-jähriger Spionage für die Russen. Entdeckt wurde er nur, weil ein ehemaliger russischer KGB-Mitarbeiter ihn für 7,2 Millionen Dollar an das FBI verraten und die entsprechenden Akten gleich mitgeliefert hatte.
Wer ein Psychogramm dieser Superspione und ihrer Motive erstellen will, stößt auf groteske Widersprüche. Der streng katholische Hanssen, Vater von sechs Kindern und bekennender Kommunistenhasser, eher unscheinbar im Windschatten seiner attraktiven Frau agierend, musste seine schon 1980 aufgenommene Spionage für die Russen immer wieder unterbrechen, weil die Gattin ihm auf die Schliche gekommen war und ihm furchtbar die Leviten gelesen hatte. Als Mitglied des erzreaktionären Opus-Dei-Ordens bestand sie sogar darauf, dass Hanssen 25.000 Dollar seines KGB-Honorars an Mutter Teresa spendete. Danach versuchte er, seine Maulwurfaktivitäten vor ihr geheim zu halten.
Offenbar litt die graue Maus Hanssen unter starker Profilneurose: Von FBI-Kollegen wurde er wegen seiner dunklen Langweileranzüge als „Bestattungsunternehmer“ verspottet und als begriffsstutziger Hanswurst aus der zweiten Riege eingeschätzt. So war seine Doppelagentenrolle für ihn wohl die optimale Möglichkeit, sich Anerkennung und Selbstbestätigung zu verschaffen. Dieser verkannte Mann ohne Eigenschaften war auch sexuell ein Außenseiter: Er lud regelmäßig Freunde ein, die ihn dann von einem Nebenzimmer aus über eine Videokamera beim Sex mit seiner Frau beobachten konnten.
Aldrich Ames, der alkoholabhängige CIA-Agent, konnte seinen Verrat nach seiner Enttarnung 1994 dagegen ganz genau begründen: Ihm seien die Lügen und fadenscheinigen Forderungen der Agency für immer höhere Etats so sehr gegen den Strich gegangen, dass er sich entschloss, für die andere Seite zu arbeiten. Mit den Hinweisen auf angebliche gigantische Rüstungs- und Spionageprogramme der Russen hatten die CIA-Chefs über Jahrzehnte ihre Milliarden-Dollar-Etats durchgesetzt. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Nur begründet man jetzt nach dem Ende des Kalten Krieges die riesigen Geheimdienstbudgets mit der weltweit erforderlichen Terrorbekämpfung.
Ebenso spannend wie der abenteuerliche Plot, der aus einem Roman von John le Carré stammen könnte, sind Tscherkaschins Beschreibungen des Spionage-Alltags, kritische Reflexionen über Sinn und Nutzen der Geheimdienste sowie deren Abhängigkeiten vom politischen Machtapparat.
Tscherkaschin nimmt die historische Zäsur nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion („sie brach unter ihrem eigenen Übergewicht zusammen“) zum Anlass, über Reformen und Strukturmängel des KGB (die Nachfolgeorganisation, zuständig für ausländische Gegenspionage, heißt nun DSV) nachzudenken. Ähnlich wie die amerikanischen Kritiker verurteilt er die zu große Abhängigkeit der Dienste vom Kreml, eine korrupte Funktionärsclique und die allgemeine Unfähigkeit, angesichts eines konkreten Feindbildes politische Ziele eindeutig zu definieren.
Ist die Nato nun unser Feind oder ein Verbündeter?“, fragt der frustrierte Russe, der 1991 entnervt den Dienst quittierte und jetzt als Sicherheitschef einer Moskauer Bank arbeitet, wo er den Kampf gegen die allgegenwärtige Mafia-Krake aufgenommen hat.
Aldrich Ames soll für seine KGB-Spionage laut Tscherkaschin 2,5 Millionen Dollar, Hanssen rund 600.000 Dollar (und Diamanten, Rolex etc.) erhalten haben. Doch trotz all der sensationellen Informationen, die er von den US-Superspionen bekam, trotz seiner eigenen großen Erfolge beim Abwerben und Führen amerikanischer Spione ist die Bilanz des mit dem Lenin-Orden ausgezeichneten KGB-Manns resignierend und pessimistisch: „Letztlich haben all die Spionage-Aktivitäten keinen großen Unterschied gemacht“, resümiert Tscherkaschin. Für viel wirkungsvoller, aber auch verhängnisvoller hält er die massive US-Unterstützung der afghanischen Freiheitskämpfer, die die Moral der sowjetischen Armee unterminiert und schließlich auch den Nährboden für die Rekrutierung islamischer Terroristen bereitet habe.
Heute, so Tscherkaschin, müsse es gelten, die kleinkarierten überholten Feindbilder abzubauen und bei der Terroristenbekämpfung mit den Amerikanern nicht nur Informationen auszutauschen, sondern auch gemeinsame schlagkräftige Task Forces von Russen und Amerikanern zu bilden. Freilich scheint der Ex-KGB-Mann auch den weniger chaotischen Verhältnissen der Sowjetunion eine Träne nachzuweinen. Damals sei der jetzt übliche lukrative Ausverkauf nationaler Interessen durch geldgieriger Tycoons oder leitende Behördenangestellte jedenfalls noch undenkbar gewesen.
Tscherkaschins Blick zurück im Frust ist zugleich eine klare Analyse der notorischen Spielchen vergangener Jahre, bei denen sich die Antagonisten darum bemühten, die Winkelzüge des Gegners rechtzeitig zu erkennen und die Gegenseite mit „dirty tricks“ zu überlisten. Zu diesen Spielchen gehörte etwa auch der „Shoplifting“-Trick der US-Spionageabwehr: Agenten steckten den Frauen gegnerischer Agenten beim Einkaufen gern Artikel in die Handtasche, die hinterher als gestohlen „identifiziert“ wurden, was die sofortige Ausweisung der Agenten und ihrer Familien bedeutete. Kein Wunder, dass Tscherkaschins Frau unter einer Shopping-Phobie litt – sie wollte nicht, wie so viele andere vor ihr, als Ladendiebin „ertappt“ und ausgewiesen werden.
„Ich war nie dafür, unsere Verräter immer gleich zu exekutieren“, bekennt der ehemalige KGB-Mann. „Aber natürlich musste jeder Verrat streng bestraft werden.“ Von den zwanzig von Aldrich Ames an die Russen verratenen Spionen, die in der Sowjetunion für die USA arbeiteten, wurden zehn exekutiert, der Rest wurde lebenslänglich eingekerkert: Manchmal wurde aus den „Spielchen“ doch blutiger Ernst.
Wiktor Tscherkaschin ist nicht der einzige Kritiker der hochtourig, aber nicht sehr erfolgreich operierenden Geheimdienstmaschinerie. Der in London lebende 73-jährige australische Journalist und Geheimdienstexperte Phillip Knightley ist seit vielen Jahren für seine kritische Einschätzung bekannt. Er hat über viele Pannen und Reformversuche der Dienste berichtet, die britischen „Maulwurfskandale“ um die Cambridge-Spione Philby, Burgess, MacLean und Blunt beschrieben, er veröffentlichte eine „Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert“ und interviewte den britischen Doppelagenten Kim Philby, der jahrelang für den KGB gearbeitet hatte, nach dessen Untertauchen in Moskau. Vor dem Irakkrieg hatte er schon darauf hingewiesen, dass die penetranten Behauptungen der Amerikaner, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, ihn sehr an den vom CIA im August 1964 fabrizierten Tongkin-Zwischenfall erinnerte: „Nach dem angeblichen Angriff der Nordvietnamesen auf das Spionageschiff ‚Maddox‘ hatte Präsident Johnson endlich den perfekten Vorwand, den Vietnamkrieg auszuweiten und vom Kongress riesige Etats bewilligt zu bekommen. Die Behauptungen der angeblichen Existenz von Husseins gefährlichem Waffenarsenal war ein ähnlicher, von langer Hand vorbereiter Vorwand für den Krieg.“
Knightley ist einer der wenigen, die ihre vernichtende Kritik an den Milliarden verschlingenden, meist dilettantisch operierenden Diensten offen aussprechen und sogar deren Existenzberechtigung in Frage stellen. In seinem Haus in Notting Hill sitzt er zwischen hohen Bücherstapeln und Akten, über seinem Schreibtisch hängen Fotos und Urkunden, darunter auch ein Bild des legendären Kim Philby, über den er ein stark beachtetes Buch schrieb.
Der kleine, kinnbärtige Knightley lässt all die Geheimdienstpannen der letzten sechzig Jahre – Pearl Harbour, Schweinebucht-Desaster, Sturz des Schah-Regimes, Mauerbau, Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums, sowjetischer Überfall auf Afghanistan, Saddam Husseins Kuwait-Invasion – Revue passieren und bringt seine vernichtende Kritik dann auf den Punkt: „Alles, was wichtig und bedrohlich war, haben diese mit riesigen Etats und vielen tausend Mitarbeitern versehenen Dienste verschlafen und verpatzt! Nennen Sie mir doch ein gravierendes politisch-militärisches Ereignis, das irgendein Geheimdienst vorhergesagt hat – ich wette, Sie finden keins.“
Die KGB-Pannen (Afghanistan, Tschetschenien) sowie das Dauerdesaster der britischen Dienste MI5 und MI6 blendet Knightley dabei keineswegs aus: Ihm geht es darum, dass der „menschliche Faktor“ von allen Diensten unterschätzt oder einfach ignoriert wird. Was nütze es denn, meint der Kenner des „zweitältesten Gewerbes der Welt“ (so der Titel eines seiner Bücher), wenn den Machthabern zutreffende Informationen über gegnerische Operationen vorliegen, diese jedoch nicht geglaubt oder falsch interpretiert werden? „Stalin verhöhnte seine Informanten, die ihn vor einem deutschen Angriff warnten, und als die Amerikaner über ihre Satelliten die argentinische Mobilisierung von Armee und Marine erkannt hatten, kam im Foreign Office und in Number Ten Downingstreet niemand auf die Idee, dass es gegen die Falklands ging.“
Gigantische Apparate wie die NSA, die jeden Winkel der Erde erfassen, jedes Fax und jede E-Mail heimlich mitlesen können, hätten weder die Terrorattacken vom 11. September vorhergesehen noch den Bau der indischen und pakistanischen Atombomben registriert. „Was spricht also gegen die radikale Ausmerzung dieser anachronistischen Dienste in Friedenszeiten? Mir hat übrigens mal ein ehemaliger KGB-Mann gesagt: Wenn er die Wahl hätte zwischen einem Dutzend erfahrener Geheimdienstagenten oder einem Abo der New York Times, würde er sich auf jeden Fall für das Zeitungsabo entscheiden. Der Mann hat völlig Recht!“
Natürlich ist dieses radikale Eindampfen der Dienste für die auf Gigantomanie und weltweite Hightech-Überwachung fixierten Amerikaner keine Option. So bleibt für die US-Geheimdienste offenbar nur das deprimierende Fazit: weiterwursteln wie bisher schon – alles rund um den Globus ausspionieren und nichts begreifen von den sozialen und kulturellen Konflikten, von denen viele ja erst durch die imperialistische Hybris in Washington provoziert wurden.
PETER MÜNDER lebt als freier Autor und Journalist in Hamburg