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Archiv-Artikel

Überholter Zündstoff

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (6): Rudi Dutschkes Ansätze liefern wenig Antworten auf die Herausforderungen, die sich sozialen Bewegungen heute stellen. Die Rahmenbedingungen haben sich geändert

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbst-verständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essay-Reihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON CHRISTOPH BAUTZ

Unbestritten: Dutschke und seine Generation erstritten viele Freiheiten, die längst gesellschaftliche Normalität geworden sind. War die Teilnahme an einer Demonstration 68 als bloße Handlung eine Provokation des herrschenden Mainstreams und des familiären Friedens, ist dies längst fester Bestandteil einer pluralen Gesellschaft geworden.

Zugegeben: Dutschke war in vielen Fragen seiner Zeit voraus. Doch was damals innovativ war, ist mittlerweile die Normalität sozialer Bewegungen. Dutschke verstand sich auf politisches Netzwerkeln – gerade auch mit Bewegungen anderer Länder und Kontinente. Denn wenn auch der Widerstand der 68er-Jahre global stattfand, so agierten die einzelnen Bewegungen doch in engen nationalstaatlichen Grenzen. Mittlerweile hat sich die von Dutschke angestrebte Internationalität herausgebildet. Mit dem World Social Forum findet die globale Vernetzung alljährlich ihren Höhepunkt.

Dutschke suchte die Einheit in der Vielfalt und stellte sich vehement links-dogmatischem Sektierertum und ideologischen Grabenkämpfen entgegen – mit wenig Erfolg. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis es der globalisierungskritischen Bewegung gelang, verschiedene Bewegungsströmungen auf einen Minimalkonsens zu einigen – obgleich dieser auch heute auf tönernen Füßen steht. Ihre Aktivisten ziehen trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Visionen und Utopien an einem Strang. Sie suchen die Veränderungen der kleinen Schritte, auch wenn die Ziele weit auseinander liegen.

Dutschkes Verhältnis zur Mediengesellschaft war weit unverkrampfter als das vieler seiner Weggefährten. Er wollte die Menschen mit Hilfe der Massenmedien erreichen. Bewegungen haben diese mittlerweile längst als zentralen Adressaten entdeckt. Der durch intensive Medienberichterstattung getragene rasante Aufstieg von Attac nach den Protesten von Genua ist hier sicher ein eindrückliches Beispiel.

Zentral für die 70er-Jahre war zudem die Entdeckung der ökologischen Frage als bisher völlig übersehender eklatanter gesellschaftlicher Missstand. Hingen viele der 68er-Generation noch einem unkritischen Fortschrittsglauben an, so trug Dutschke stark dazu bei, Umweltaspekte auf die Agenda von Bewegungen zu bringen. So weit Dutschkes auch heute noch aktuellen Ansätze.

Andere entbehren hingegen jeglicher Relevanz für heutige Bewegungen, wirken antiquiert und verstaubt. Die „Gewaltfrage“, die in den 68er-Jahren und erst recht in den bleiernen 70ern noch Zündstoff für nächtelange Debatten lieferte, schlägt kaum mehr hohe Wellen. Die meisten Bewegungen ziehen – zumindest für demokratisch verfasste Gesellschaften – eine klare Grenzlinie jenseits von Aktionen zivilen Ungehorsams. Darüber hinausgehende Aktionen finden in demokratischen Gesellschaften kein Verständnis und keine Legitimation.

Umso unverständlicher der Appell Klaus Meschkats in der taz, sich doch auf Militanz und die Aktionsformen von Dutschke & Co zu besinnen, „wenn Millionen friedlicher Demonstranten in ganz Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht verhindern konnten“. Das zeugt von einer verkürzten Sicht auf die Wirkungsweise von Bewegungen. Bewegungen beeinflussen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zumeist nur langfristig. Die Antikriegsdemonstrationen haben den Krieg nicht verhindert. Sie haben aber die Schwelle für die Bush-Administration erhöht, sich im Kampf gegen die „Achse des Bösen“ in neue Abenteuer zu stürzen. Wie Dutschkes Stadtguerilla-Fantasien und die ominös bleibenden „neuen Aktionsformen“ die Invasion hätten aufhalten können, bleibt Meschkats Geheimnis.

Auch Dutschkes Hoffnung seiner letzten Jahre, durch einen verlängerten Arm im Parlament Politik entscheidend beeinflussen zu können, hat spätestens nach sechs Jahren grüner Regierungsbeteiligung viel Faszination eingebüßt. Entscheidend sind die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse außerhalb des Parlaments. Wenn der zivilgesellschaftliche Druck groß genug ist, reagiert die Politik. Diesen Druck gilt es zu organisieren. Deshalb bleibt heute die Begeisterung von Bewegungen gegenüber neuen Parteigründungen gering.

Dutschkes Ansätze liefern wenig Antworten auf die Herausforderungen, die sich Bewegungen heute stellen. Dies ist wenig verwunderlich, haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen doch fundamental geändert. In den 68ern ging es darum, Freiheit von staatlichen Eingriffen zu erkämpfen, die Täter des Faschismus aus den Institutionen zu jagen und den Muff unter den Talaren zu vertreiben. Diese zutiefst kritische und misstrauische Haltung gegenüber dem Staat zeichnete Dutschke aus. Sie bleibt bis heute tief in allen Ebenen der Grünen verankert und erklärt ihre Offenheit gegenüber neoliberalen Politikansätzen des schlanken Staats.

Das libertäre Element Dutschkes ist Bewegungen fremd geworden, die in Zeiten neoliberalen Angriffs auf soziale Sicherungs- und Steuersysteme für einen regulierenden und umverteilenden Sozialstaat eintreten. Denn: Ging es 68 noch um übertriebene und fehlgeleitete Steuerungsfähigkeit des Staats, so droht diese in Zeiten eines globalen Standortwettbewerbs zerrieben zu werden. Globalisierung liefert die (Droh-)Kulisse, vor der soziale Sicherung und gesellschaftliche Umverteilung abgebaut werden. Als Folge bröckelt der soziale Kitt der Gesellschaften.

Die Verteidigung gesellschaftlicher Selbstbestimmung mit Hilfe des Staats als Gegengewicht zur entfesselten Macht der Marktkräfte wird zu einem zentralen Fokus für Bewegungen. Auf internationaler Ebene ist das anders. Hier gilt es zivile, soziale und ökologische Standards und damit demokratische Steuerungsfähigkeit überhaupt erst zu erstreiten. Dass sich die Aufgaben und Herausforderungen heutiger Bewegungen diametral von denen der Zeit Dutschkes unterscheiden müssen, liegt auf der Hand.

Bei der Entwicklung neuer Ansätze stehen Bewegungen und ihre Organisationen vielfach noch am Anfang. Bewegungen müssen klarere und vermittelbarere politische Alternativvorschläge zu einer neoliberal geprägten Politik von Regierung und Opposition entwerfen. Sonst drohen zukünftige Protestwellen ähnliche Strohfeuer wie bei Hartz IV zu bleiben. Sie müssen Strategien entwickeln, um Menschen jenseits des Bewegungsmilieus in der Mitte der Gesellschaft zu erreichen und für emanzipative, solidarische Ziele zu mobilisieren. Sonst werden sie nicht genügend politisches Gewicht in die Waagschale legen können. Sie müssen reaktionsschneller werden und gezielt dann intervenieren, wenn politische Entscheidungen getroffen werden. Und sie sollten die Möglichkeiten neuer Kommunikationstechnologien stärker nutzen, um sehr viele Menschen schnell und kostengünstig zu erreichen.

Dutschke wird ihnen hierbei wenig helfen können – doch seine Bedeutung lag nicht nur in der Rolle des Vordenkers. Er war eine charismatische Führungsfigur, die trotz seiner eher hölzern wirkenden Reden eine enorme Ausstrahlung hatte. Er konnte Menschen für seine Ideen begeistern. Solcher Figuren entbehrt die Bewegung, was gerade in Zeiten eines personalisierten Mediensystems eine Schwäche ist. Die weit stärkere und einflussreichere globalisierungskritische Bewegung in Frankreich zeigt, wie wichtig charismatische Persönlichkeiten sind: José Bové und Susan George als Bewegungsaktivisten, Pierre Bourdieu und Ignacio Ramonet als Intellektuelle. Entscheidend ist, dass sie Teil einer Bewegung bleiben und nicht zu deren Helden hochstilisiert werden oder zu bloßen Medienkonstrukten mutieren. Die Bedeutung charismatischer Persönlichkeiten führt Dutschke sicherlich eindrucksvoll vor Augen.

Den Streit um die Interpretation der Gesellschaftsanalyse Dutschkes und um sein Verhältnis zur Gewalt können wir getrost den Historikern überlassen. Als ein deutscher Che Guevara mag Dutschke manchen Revolutionsträumer noch erfreuen. Auch als Abziehbild in Werbekampagnen hilft er dem einen oder anderen Media-Designer bei der Bewältigung nostalgischer Revoluzzergefühle. Von praktischer Relevanz für Bewegungen, die „eine andere Welt möglich“ machen wollen, ist er nicht.

Christoph Bautz widmete sich in den letzten Jahren dem Aufbau von Attac Deutschland und der Bewegungsstiftung. Im vergangenen Jahr gründete er die Online-Kampagnen-Organisation Campact.de, als deren Pressesprecher er arbeitet. – Die Dutschke-Debatte wird kommende Woche fortgesetzt.