Pflege mehr als pflegebedürftig

Immer älter werden die Bundesbürger, und immer mehr von ihnen brauchen Pflege. Die Politik muss schnell entscheiden, wer das wie finanzieren soll

VON ULRIKE WINKELMANN

Die Pflege wird das sozialpolitische Thema des Jahres 2005. Die rot-grüne Bundesregierung will der Union die Reform der Pflegeversicherung als nächstes großkoalitionäres Projekt anbieten – nach Gesundheit 2003 und Arbeitsmarkt 2004.

Die Pflege ist zwar die kleinste der fünf Sozialversicherungen (siehe Kasten). Doch leidet sie am stärksten an der demografischen Veränderung: Immer mehr Menschen werden sehr alt. Immerhin bleiben auch immer mehr Alte sehr lange gesund. Gerade aber bei über 80-Jährigen steigt das Risiko, an Demenz zu erkranken, steil an. Die Medizin kann Krankheiten wie den Krebs zwar bekämpfen, doch nicht die Pflegebedürftigkeit vermeiden.

Die Pflege ist schlecht erforscht: „Die Republik weiß alles über die Zahl der importierten Gurken – aber nichts über die Zustände in der Pflege“, sagt etwa Gerhard Igl, Kieler Jurist und Verfechter einer unabhängigen Qualitätsentwicklung. Doch niemand bestreitet: Der Pflegebedarf wächst rasant, und die Pflegeversicherung hält nicht mehr Schritt. Ihre Leistungen stagnieren seit dem ersten Tag, an dem sie ausbezahlt wurden, vor genau zehn Jahren – trotz steigender Löhne des Pflegepersonals.

Der Kanzler mochte noch vor einem Jahr nicht einsehen, dass bis zur Wahl 2006 auch über die Pflege geredet werden müsse. Im Januar 2004 kippte er eine bereits im Sozialministerium erarbeitete Reform, die mehr Leistungen für Demente und für häusliche Pflege vorsah. Mittlerweile hat auch Gerhard Schröder gemerkt, dass die Pflegeversicherung auf festere finanzielle Füße gestellt werden muss, damit mindestens für die aufwändige Pflege der Dementen mehr bezahlt werden kann.

Zwar hat Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) einen eigenen Regierungsentwurf für eine Pflegereform erst für den Herbst angekündigt. Doch laufen sich auf allen Seiten bereits die Experten warm, um für ihre Lieblingsversion einer Sozialreform zu werben: Entweder muss Kapital in die Pflege, sprich: Sie wird (teil-)privatisiert. Oder es muss mehr Solidarität in die Pflege, sprich: Die Privatversicherten müssen auch für den Rest der Bevölkerung mit einzahlen. Oder vielleicht beides?

Bevor jedoch die Koalition mit der Union redet, muss sie sich erst einmal selbst einig sein. Die SPD-Linke will eine Bürgerversicherung. Unterstützt wird sie vom SPD-Chef: „Man könnte sich für die Pflegeversicherung eine ähnliche Konstellation vorstellen wie bei der Bürgerkrankenversicherung auch“, sagt Franz Müntefering. Das Argument: Die allgemeine, soziale Pflegeversicherung macht Verluste. Die private Pflegeversicherung dagegen macht Gewinne und kann ihre Prämien regelmäßig absenken. Denn wer privat versichert ist, gehört nicht nur zum besserverdienenden, sondern auch zum gesünderen Teil der Bevölkerung und verursacht weniger Kosten. Also sollen die zehn privatversicherten Prozent der Bevölkerung für alle anderen mit einstehen.

Die SPD-Rechte, vertreten in der Regierung, tendiert dagegen mehr Richtung Kapitalaufbau in der Pflegeversicherung – also Teilprivatisierung. Damit öffnet sie der Union die Tür, die über die Bürgerversicherung nicht reden will und voll auf Privatisierung setzt: „Wenn es Sinn macht, in unseren gesetzlichen Sozialsystemen auf eine Kapitaldeckung umzustellen, dann in der Pflegeversicherung“, sagt Wolfgang Zöller (CSU), in der Union Nachfolger des Chef-Sozialpolitikers Horst Seehofer.

Die grüne Pflegepolitikerin Petra Selg möchte am liebsten beides: Kapital und Bürgerversicherung. „Wir werden einen Kapitalstock à la Riester brauchen.“ Anders aber als bei der Riesterrente sollen alle verpflichtet werden, einen Teil ihrer Pflegebeiträge als „Demografie-Reserve“ anzulegen. „Und außerdem brauchen wir die Bürgerversicherung, also die Aufhebung der Grenze zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung“, sagt Selg.

Die Pflege wird zum jüngsten Schauplatz des Kampfes zwischen Fans des Kapitalmarkts und Fans des Umlagesystems. Angesichts der Lage der SPD ist das Ergebnis absehbar.