: „Niemand wird dazu gezwungen“
Mit der Pflegeversicherung ist die Pflege dem Markt übergeben worden, sagt Claus Fussek. Statt bloß über Finanzen müsse über Qualität in der Pflege geredet werden. Er fordert schärfere Kontrollen
taz: Herr Fussek, aus den 80er-Jahren stammt der Begriff „Pflegenotstand“. Hat sich mit der Pflegeversicherung etwas an der Situation der pflegebedürftigen Menschen verbessert?
Claus Fussek: Nein. Die Pflegeversicherung hat die Mängel der Pflege nur sichtbar gemacht. Und wir haben jetzt einen Medizinischen Dienst der Krankenkassen, den MDK, der auf Qualitätsmängel und auf Überlastung des Personals hinweist. Wenn die Zahlen nicht gerade aus politischen Gründen zurechtgebogen werden – wie in der jüngsten MDK-„Studie“. Dort will man 90-prozentige Zufriedenheit bei den gepflegten Menschen festgestellt haben. Und damit gehen die Pflegepolitiker und Heimträger jetzt hausieren.
Dürfen sie das nicht?
Aber gleichzeitig wurden über 40 Prozent der Befragten nicht vor Druckgeschwüren geschützt und nicht ordentlich ernährt! Da hat die Generation Auskunft gegeben, die immer noch sagt: Na, im Bombenhagel war’s halt noch schlimmer. Bei fast jedem fünften Heimbewohner war die Versorgung „unzureichend“. Ein Fünftel von 600.000, das sind 120.000 Menschen.
Was ist „unzureichend“?
Viele Menschen bekommen zu wenig zu essen und zu trinken. Viele trinken übrigens zu wenig, weil sie Angst haben, dass ihnen nicht auf die Toilette geholfen wird. Andere haben Schluckbeschwerden oder Kauprobleme, weil ihre Zähne stiefmütterlich behandelt werden. Sie essen nicht, weil sie keinen Appetit haben, weil sie im eigenen Kot sitzen. Sie leiden häufig an Dekubitus, Druckgeschwüren, weil sie nicht bewegt werden. Rechtsmediziner sagen, dass von den Verstorbenen, die feuerbestattet werden, bis zu 16 Prozent keines natürlichen Todes gestorben sind. Sie berichten von Dekubiti, so groß, dass da eine Männerfaust hineinpasst.
Bessere Pflege kostet Geld, und darum geht es jetzt im Kampf um eine Pflegereform. Ist das nicht die Chance für eine Qualitätsdebatte?
Ach! Jetzt geht der Kampf um die Zehntelprozentpunkte der Pflegeversicherungsbeiträge los. Dabei könnten Millionen, wenn nicht Milliarden Euro gespart werden. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt will jetzt „prüfen“, ob es möglich ist, angebrochene Packungen mit hochwertigen Medikamenten nicht wegzuwerfen. Ja, wen will die da prüfen lassen? Die Pharmaindustrie vielleicht? Dass jedes Jahr Milliardenwerte an Pillen vernichtet werden, haben wir schon in den 80er-Jahren gesagt!
Trotzdem sind sich die meisten Pflegepolitiker einig, dass mehr Geld in die Pflege muss. In Zeiten des Sozialabbaus ist das doch etwas.
Natürlich hat Qualität mit Geld zu tun. Aber nicht nur. Es gibt gute Heime. Die haben zum Beispiel einen eigenen Koch, der ist stolz auf sein Essen. Da stinkt es nicht überall nach Kot und Urin. Da darf man bei Sonnenschein in den Garten. Da wird Ostern an Ostern gefeiert – und nicht, wenn es grade in den Wochenplan passt. Und diese Heimplätze sind nicht oder kaum teurer als Heime, wo Menschen unwürdig gepflegt werden. Wenn statt alter Menschen dort exotische Tiere gehalten würden, würde die Debatte überkochen. Die Gesellschaft regt sich über die Rechtschreibreform mehr auf als über Menschenrechtsverletzungen in Altenpflegeheimen.
Ist also genug Geld da?
Heimträger, etwa die Marseille-Kliniken, gehen an die Börse. Es wird niemand gezwungen, Heime zu betreiben – und doch bewerben sich die Träger drum. Mit der Einführung der Pflegeversicherung ist das „Produkt Pflege“ der Marktwirtschaft übergeben worden. Da wird Geld gemacht. Es kommt nur nicht als Qualität bei den zu Pflegenden und den Pflegekräften an.
Und wie soll das Geld in Qualität gelenkt werden?
Wir brauchen effektive Kontrollen – die nicht mehr angemeldet werden dürfen. Die Kassen sollen mal in den Kliniken fragen, aus welchen Heimen die Menschen wie oft mit welchen Diagnosen eingeliefert werden. Dann würden sie merken, wo schlecht gepflegt wird.
Geht es nur um die Heime?
Natürlich nicht. Auch die häusliche Pflege braucht Entlastung: Die Frauen – meist sind es ja Frauen –, die zu Hause pflegen, brauchen bezahlbare Kurzzeitangebote, Tagesstätten, Nachtwachen. Wir brauchen Prävention und vorbeugende Betreuung. Wenn eine alte Dame gestürzt ist und ihren Oberschenkelhalsbruch hat, ist es zu spät. Und wir brauchen Kostentransparenz: Wo fließt das Geld hin?
Setzen Sie mit alldem auf irgendeine Partei?
Nein. Ich setze auf gesamtgesellschaftlichen Druck. Fast jeder Mensch braucht einmal Pflege.INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN
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