: Sinneseindrücke
Zu Besuch bei einer Schulleiterin
von GABRIELE GOETTLE
Ulrike Kegler, Lehrerin, Leiterin d. Montessori-Gesamtschule Potsdam. 1961 Einschulung i. d. Bodelschwingh-Grundschule Deilinghofen/Sauerland. 1963 Umzug n. Berlin. Besuch d. Galilei-Grundschule u. ab 1968 Besuch d. Leibnitz-Gymnasiums i. Berlin-Kreuzberg. 1974 Abitur. 1975–1980 Lehrerausbildung (Projektstudium) an der Universität Oldenburg, 1980 Abschluss m. d. 2. Staatsexamen, Lehrerbefähigung f. d. Lehramt i. Grund- und Sekundarschulen f. d. Fächer Kunst, Geschichte/Politik. 1980–1981 Lehrerin i. Oldenburg (Grundschule), 1981–1992 Lehrerin a. zwei Grundschulen in Berlin-Zehlendorf, 1993–1995 Lehrerin a. d. Karl-Liebknecht-Oberschule i. Potsdam, Eröffnung u. Leitung d. ersten Montessori-Klasse der Stadt. Seit 1995 Leiterin der Karl-Liebknecht-Gesamtschule, die seit 2000 Montessori-Gesamtschule ist. Damit wurde gleichzeitig ein Modell geschaffen, an dem sich eine grundlegende Erneuerung d. Unterrichtspraxis a. staatlichen Schulen orientieren könnte. Erfolgreich erprobt u. umgesetzt wurden u. a. differenzierte Lern- und Lehrmethoden in heterogenen Lerngruppen ebenso wie neue Formen d. Leistungsbeurteilung u. Dokumentation. Gründung zahlreicher Initiativen (u. a. Elternschule, ästhetische Gestaltung v. Lern- u. Lehrräumen, Gestaltung d. kulturellen Schullebens, systematische Schulberatung). Verfasserin diverser Beiträge i. Fachzeitschriften u. d. Buches „Die Montessori-Gesamtschule in Potsdam“, zusammen m. Annedore Prengel. Ulrike Kegler wurde 1955 als Tochter einer Kindergärtnerin i. Hemer bei Iserlohn i. Sauerland geboren, sie ist verheiratet u. hat drei Söhne.
Die Tatsache, dass sich allmorgendlich Heerscharen von Schülern und Lehrern auf den Weg in eine Schule machen, die sie hassen, fürchten und verachten müssen, wurde lange Zeit wie ein unausweichliches Verhängnis hingenommen. Unerbittlich vollzogen wurde ein genauestens geregeltes Schulsystem, obwohl es für Lebensfreude, Gesundheit und Charakterbildung der Betroffenen schädlich ist. Erst seit durch die Pisa-Studie amtlich wurde, dass es auch zu miserablen Bildungsergebnissen führt im internationalen Vergleich, ist Unruhe in die Bildungspolitik gekommen. Die Änderungsvorschläge reichten von verstärkter Vorschulförderung bis hin zur Verschärfung von Auslese und Drill. Zwangsläufig schlägt nun auch die Stunde der Reformpädagogik, die sich seit über hundert Jahren bewährt, aber eigentlich immer nur in Zeiten des historischen Umbruchs eine Chance zur Durchsetzung hatte. So auch in der Umbruchphase in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR; und dann wieder, mit gesamtdeutscher Auswirkung, nach Pisa. An einigen wenigen staatlichen Schulen durften reformpädagogische Konzepte, versuchsweise und unter wissenschaftlicher Beobachtung, erprobt werden. Sie durften tun, was sonst nur freien Schulen möglich war: ihren Schülern etwas Außergewöhnliches bieten.
Eine dieser – ich glaube, es sind fünf insgesamt – staatlichen Schulen, ist die Schule Nummer 20, ehemals Karl-Liebknecht-Schule und heutige Montessori-Gesamtschule in Potsdam (ein Schulversuch im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg). Sie ist eine staatliche Regelschule von der ersten bis zur zehnten Klasse für etwa 500 Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis 16 Jahren. Seit 2005 ist sie Ganztagsschule. Ihr Konzept ist an den pädagogischen Grundsätzen von Maria Montessori orientiert.
Maria Montessori (1870–1952), Italienerin, Pädagogin, Anthropologin und Ärztin, befasste sich als junge Frau mit den medizinisch-pädagogischen Arbeiten der beiden französischen Ärzte Gaspar Itard (1774–1838) und Edouard Séguin (1812–1880). Itard konnte im Fahrtwind der Französischen Revolution eine Pädagogik für geistig Behinderte und Taubstumme entwickeln, er galt als der Experte der Sprachlosigkeit und war der Erzieher des „wilden Kindes“ Viktor. Séguin war sein Schüler, fand ebenfalls vorübergehend gute Forschungs- und Arbeitsbedingungen durch die 1848er Revolution, bei der er aktiv war, emigrierte dann nach Amerika. Er ist der Begründer der wissenschaftlichen Geistigbehindertenpädagogik. Montessori nutzte und erweiterte Theorie und Instrumentarium der beiden und hatte ihre ersten großen Bildungserfolge mit geistig Behinderten, danach erst erweiterte sie ihre Erfahrungen zu einem allgemeinen pädagogischen Modell, in dem nicht Erziehung im Mittelpunkt steht, sondern die behutsame und intelligente Hilfestellung für die Kinder auf ihrem Weg zu Wissen und Welterkenntnis. Ihre Methode fand zahlreiche begeisterte Bewunderer und Anhänger, unter anderen auch Freud, Tagore, Mahatma Gandhi, de Vries oder auch Bell, der nicht nur der Erfinder des Telefons, sondern auch Taubstummenlehrer war, er gründete die erste Montessori-Schule Amerikas. Die weltweite Ausbreitung der Montessori-Pädagogik zeigt, dass hier ein allgemein verbindlicher Puls ertastet wurde, der unter allen nationalen Unterschieden klopft.
Für die Schüler der Montessori-Schule in Potsdam bedeuten all die historischen Vorarbeiten: anschauliches, individuelles, freiheitliches Lernen statt Frontalunterricht und Paukerei; verbale Beurteilung bis Klasse acht statt Ziffernnoten; keinerlei Aussonderung nach Leistungskriterien (Fehlerfreudigkeit ist ausdrücklich erlaubt); gemeinsames Lernen in jahrgangsgemischten Klassen bis zur achten Klasse. Großer Wert wird gelegt auf freundliche Umgangsweisen und Respekt vor dem Anderssein (zum Beispiel gegenüber den behinderten Mitschülern), überhaupt wird auf eine grundsätzliche Vermittlung von Friedfertigkeit und Frieden sehr geachtet. Das war auch ein zentrales Thema Montessoris, und an diesem Punkt herrscht vollkommene Übereinstimmung mit Karl Liebknecht und seinen Anstrengungen für eine antimilitaristische Erziehung der Jugend. All das bewerkstelligt ein westöstliches Lehrerkollegium, das sich gemeinsam mit den Schülern und Eltern vor einigen Jahren an die Arbeit gemacht hat. Entstanden ist eine Schule, die nicht nur etwas lehrt, sondern auch unentwegt lernt, in der nicht nur auf die Selbstentwicklungskräfte der Kinder, sondern auch auf die der Lehrer vertraut wird. Sie müssen nicht nur taktvolle Pädagogen mit breitem Fachwissen sein, sie müssen auch, ohne die Konkurrenz anzustacheln und ohne Hilfe der üblichen Disziplinierungsmaßnahmen wie Notenvergabe, Lob, Tadel, Strafe, die Kinder zum selbstständigen Lernen animieren. Sie müssen sich damit arrangieren, dass ihre Rolle nicht mehr die des übermächtigen Zentralgestirns innerhalb der Klasse ist, sondern die des zurückhaltenden, aber aufmerksamen Beobachters beim jeweils individuellen Lernprozess. Es geht um die Herstellung eines Klimas der Inspiration, Ruhe und Muse zum Lernen.
Die Montessori-Schule liegt südwestlich vom Schlosspark Sanssouci, nah am Wildpark in der Schlüterstraße, einer ruhigen Seitenstraße. Das Tierheim ist nicht weit, Siedlungshäuser und die Kolonien „Krähenbusch“ und „Unverzagt“ umgeben das auf den ersten Blick unauffällige DDR-Funktionsgebäude aus den Sechzigerjahren. Innen ist es aber, dank großer Fenster und eines offenen, lichten Treppenhauses, sympathisch. Der erste Blick fällt durch die Fensterfront des gegenüberliegenden Ausgangs in den liebevoll gestalteten großen Schulgarten. Es gibt alte Bäume, wild aussehende Balanciergerüste aus Holzstangen, es gibt Schaukeln und Klettersteine, kultivierte Ecken und Gebüsche, gepflasterte Areale und sandige Flächen. Im Zentrum steht ein hoher, teils bearbeiteter Brunnenstein, von dem im Sommer offenbar Wasser fließt für vergnügte Kinder. Nun ist noch Winter und alles verschneit, auch die Büste von Karl-Liebknecht hat ein Schneehäubchen.
Die Schulleiterin, Frau Kegler, empfängt uns herzlich und schlägt einen kleinen Rundgang durch die Schule vor. Es ist neun Uhr morgens. Wir sehen einen Werkraum, in dem besonders ein im Bau befindliches große Kanu auffällt, das bauchige Holzgerüst ist bereits fertig. Wir sehen eine überraschend kleine Kantine, in der jeden Mittag 310 Kinder essen. Heute gibt es Eier in Senfsoße und Hirsebrei mit Zucker und Zimt. Das Essen wird gebracht, kostet 2,40 Euro und besteht zu 70 Prozent aus ökologischer Erzeugung. Wir sehen die breiten Flure, in denen ab und zu Sitzecken eingerichtet sind, und es gibt große, kniehohe Podeste, auf denen lesende Kinder liegen. Überhaupt begegnen wir unentwegt Kindern, die sich allein oder gemeinsam beschäftigen, plaudern, auf dem Boden kniend große Papierbögen hingebungsvoll bemalen. Die Geräuschkulisse ist nicht laut oder kreischend, ein Kaffeehauston, gleichmäßig und angenehm unaggressiv. Alle Kinder und Jugendlichen tragen Hausschuhe oder nur Socken. Straßenschuhe und Schultaschen stehen vor den Klassenräumen auf dem Flur. Die Kinder wirken freundlich und unbefangen. „Dieser Anblick erschreckt viele unserer Besucher“, sagt Frau Kegler, „die Kinder auf dem Flur, wie in der Pause! Sie haben jetzt Freiarbeit, und Freiarbeit ist bei uns Unterricht, sie ist bei uns das Kernstück. Sie sehen ja, die Kinder lernen aus freien Stücken und nach ihrem eigenen Interesse.“ Ein Knabe legt eine lange Kette aus Holzperlen aus und kennzeichnet sie nach Abschnitten. Ich entschuldige mich für die Störung und bitte ihn, zu erklären, was er da macht. Er blickt erst auf die Kette und sagt dann. „Das ist die Tausenderkette, die teile ich jetzt in Zehner auf, es fehlen aber noch ein paar, und am Ende hab ich’s dann in Hunderter aufgeteilt.“ Ich frage: „Und was weißt du dann?“ Er zögert und lacht: „Na ja, was ich dann weiß, das weiß ich eigentlich jetzt schon – aber ich bin ja noch nicht am Ende.“
Wir steigen die Treppe hinauf, betrachten die überall an den Wänden hängenden Porträts, die die Kinder voneinander und von den Lehrern gemacht haben. Sie haben den sprühenden Charme unbeeinflusster naiver Kunst. Alle Klassenzimmertüren stehen offen. Die Unterrichtsräume sind hell, und man sieht ihnen an, dass hier nicht nur Unterricht empfangen wird, sondern dass man sich hier bewegt und auf verschiedene Weise arbeitet. Bücher stehen in den Regalen bereit und die Montessori-Demonstrations- und Lernmaterialien. Die Einrichtung ist spartanisch. Mal sitzen die Schüler im Kreis, mal arbeiten sie an den Tischen oder auf dem Teppichboden sitzend, das gilt hier nicht als unbotmäßiges Verhalten, sondern ist Bestandteil der körperlichen Entwicklung und Bewegungsfreiheit. Das ist, so Frau Kegler, eines der obersten Gebote. Dann zeigt sie uns die Bibliothek, in der lebhafter Betrieb ist. Sie wird von den Müttern verwaltet, jeden Tag macht eine andere Mutter Dienst.
Mitten im Raum steht ein „mongoloider“ Junge und liest in einem Buch, das er fest und in Augenhöhe hält. „Darf ich mal kurz stören, bitte, und fragen, was du liest?“, sage ich vorsichtig. Er betrachtet mich kurz und sagt bereitwillig: „König der Löwen, das ist von Walt Disney. Ich gucke da jetzt so die … Vergangenheit … die soll ich dann erzählen … ein Video habe ich auch angeschaut …“ Dann senkt sich sein Blick wieder in das Buch. Draußen im Flur erklärt Frau Kegler: „Wir haben in jeder Klasse zwei bis drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – so heißt das –, also, wir haben geistig behinderte Kinder, autistische Kinder, auch körperbehinderte Kinder. Sie nehmen ganz normal am Unterricht teil, gemeinsam mit ihrer Klasse, aber sie müssen nicht die Lernziele erreichen, die für die anderen gelten, da gibt es Sonderpädagogen und einen eigenen Rahmenlehrplan, danach wird zum Beispiel der Junge unterrichtet, mit dem Sie grade sprachen, jedes dieser Kinder hat seine ganz individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse.“ Sie grüßt zwei ältere Schülerinnen mit Namen und sagt im Weitergehen: „Ich bemühe mich sehr, alle 460 Schüler mit Namen zu kennen, denn ich finde es unglaublich wichtig, jeden einzelnen Schüler als Person wahrzunehmen, ihm das auch zu signalisieren. Gehen wir doch nach oben, wo die Großen sind, da herrscht übrigens die wirkliche Revolution, die machen überhaupt keinen gelenkten Unterricht mehr, die sind ganz souverän.“ Wir kommen vorbei an einer großen eurozentristischen Weltkarte, die die Wand im Flur bedeckt. Auf der anderen Seite ist eine ozeanische Weltkarte, und am Unterschied lernen die Schüler, sozusagen auch im Vorbeigehen, dass die scheinbar allgemein gültige Darstellung der Welt nur eine Frage der Perspektive des Betrachters ist und der seiner Macht, sie zur verbindlichen für alle zu machen.
Bevor wir im Erdgeschoss ins Direktionszimmer geführt werden, zeigt uns Frau Kegler noch das schwarze Brett, an dem, wie in der Uni üblich, Kurse und so weiter angekündigt werden. „Hier finden die Kinder die Präsentationen und welcher Lehrer heute was anbietet, so können sie sich frei entscheiden, wohin sie gehen möchten. Und sollte jemand bestimmte Themen deutlich meiden, so gibt es einen Beratungslehrer für solche Fälle, der darauf hinweist und das Problem zu lösen hilft.“
Frau Kegler bespricht sich kurz mit der Schulsekretärin im Vorzimmer. Danach steht sie uneingeschränkt zur Verfügung, bewirtet uns mit Kaffee und belegten Baguettebrötchen. Sie erzählt: „Wir fangen um acht Uhr an, wie überall, aber wir fühlen uns sehr für die Schüler verantwortlich und nehmen sie bereits so ab 7.30 Uhr in Empfang. Die Klingel, wie gesagt, ist abgeschafft, dennoch finden sich alle rechtzeitig ein. Wir haben einen so genannten rhythmisierten Schulalltag, das heißt, wir machen einen mindestens 90-minütigen Unterricht statt der üblichen 45 Minuten. Zwischendurch gibt es eine halbstündige Pause, in der sie in die Cafeteria gehen können, in der Klasse bleiben, in den Hof gehen oder auf dem Flur irgendwas machen, jeder, wie er mag. Mittags haben sie eine Stunde Pause zum Essen, Plaudern, Spielen. Es ist uns wichtig, dass die Schüler lange Zeit für die Arbeit und auch für die Pause haben. Danach geht es dann weiter bis vier Uhr, denn wir sind ja nun Ganztagsschule, aber nur für die Großen. Das geht in Brandenburg momentan nicht anders, aber für die Kleinen bieten wir dafür eine ‚verlässliche Halbtagsschule‘, verlässlich bedeutet: Es gibt keinen Unterrichtsausfall, man hat jeden Tag von acht bis 13.30 Uhr Schule, danach gehen sie in den Hort nebenan. Und wir vollbringen das Wunder dadurch – wir haben zum Beispiel derzeit vier kranke Lehrer –, dass wir die Schüler aus diesen Klassen verteilen auf andere Klassen, statt uns mit dem oft unlösbaren Problem der Lehrervertretung herumzuschlagen beziehungsweise den Unterricht ausfallen zu lassen. Das funktioniert bei uns sehr gut, denn die Kinder kennen sich untereinander und freuen sich, wenn sie mal sehen, was in anderen Klassen gemacht wird. Wir haben ja jahrgangsgemischte Lerngruppen, also: erste, zweite, dritte Klasse – vier, fünf, sechs – und sieben und acht. Jetzt wollen wir sieben, acht, neun machen. Dadurch verändert sich jede Lerngruppe jedes Jahr, es wächst immer ein Drittel raus, ein Drittel kommt neu hinzu. Dadurch kennen sich die Kinder in der ganzen Schule, und wir haben überhaupt keine Konkurrenz unter den Klassen oder Lehrern.
Wir haben 38 Lehrer. Fast nur Frauen. Also diese Schule ist total weiblich geprägt! Es gibt nur zwei Männer. Das ist hier ein spezielles Phänomen. Ich war neulich auf einer Schulrätefortbildung, 40 Brandenburger Schulräte, es wurden dann zu den jeweiligen Schulen Arbeitsgruppen gebildet, freiwillig. Ich habe nur vier Sätze gesagt: meinen Namen und dass ich die Montessori-Schule in Potsdam leite, wir jahrgangsgemischte Lerngruppen haben und keine Zensuren bis zur achten Klasse. Die Männer im Raum sind daraufhin alle wie die Hasen zu den Männern gelaufen. Zu mir kamen ausschließlich Frauen. Die Ostmänner fühlen sich offenbar nur in autoritären Strukturen sicher, lediglich entwickelte Westmänner können anscheinend etwas mit so einem System anfangen. Ich war viel im Ausland, mache jedes Jahr pädagogische Reisen, war in Kanada, Finnland, Schweden, in Neuseeland, da gibt es überall viel mehr Männer, in den alten Bundesländern bei uns übrigens auch. Also, damit kein Missverständnis entsteht, ich habe überhaupt kein arrogantes Verhältnis gegenüber Ostdeutschen. Zum Beispiel ist meine Stellvertreterin eine Ostfrau, und sie ist die beste Arbeitsbeziehung, die ich in meinem ganzen Leben hatte. Fantastisch. Wir sind ja hier überhaupt ein deutsch-deutsches Projekt. Allerdings sind vom ursprünglichen Kollegium nur noch sechs da.
Meine wesentliche Aufgabe ist Personalentwicklung, neben dem Unterricht, den ich auch mache, und allem anderen. Und es gibt eben immer auch mal jemanden, der hier nicht herpasst. Das dem Betreffenden zu sagen, ist meine Aufgabe. Der größte Fehler von Leuten, die hier nicht herpassen, ist die Respektlosigkeit gegenüber den Kindern, das heißt autoritäre und beschämende, die Würde verletzende Verhaltensweisen. Das dulden wir nicht. Alles andere kann man lernen, aber das können manche nicht lernen, und dann müssen sie eben gehen. Wir haben ganz wenig Konfrontation hier – Sie haben ja vorhin beim Rundgang gehört, dass keiner sich schreiend Gehör verschaffen muss. Das kultivierte Klima gehört zu einer guten Lernumgebung, ist auch Voraussetzung für soziales Lernen, was ja ein Herzstück unseres Schulkonzeptes ist, es ist die Basis. Die Kinder reagieren da sehr sensibel. Im Lauf der Jahre hat sich hier an der Schule eine eigene Lern- und Lebenskultur entwickelt.
Es gab ja sechs Jahre lang einen Schulversuch, und innerhalb dieses Versuchs durften wir diese ganzen Sachen machen, altersgemischt arbeiten, ohne Zensuren, mit individuell passendem Lernangebot und so weiter, das darf man ja sonst vom Gesetz her gar nicht. Und wir dürfen damit jetzt weitermachen, weil der Schulversuch erfolgreich abgeschlossen ist – er wurde ja wissenschaftlich begleitet. Und jetzt steht draußen dran: ‚Schule mit besonderer Prägung‘. Das ist für uns sehr erfreulich. Wir liegen in allen Bereichen leicht über dem Landesdurchschnitt. Da sind natürlich nur die Fachleistungen erfasst, die anderen Kompetenzen der Kinder werden ja gar nicht geprüft, leider, denn da sind unsere Kinder exzellent! Wir haben auch einen ersten Preis bekommen für innovative Schulen, also wir fallen schon auf.
Aber es gibt natürlich immer noch kritische Nachfragen von Eltern, ihre Hauptsorge ist: ‚Lernen die hier auch genug?‘ Sie haben es eben noch anders erlebt, für sie ist Schule primär ein Ort der Wissensvermittlung. Aber in Zeiten, wo jeder sich Informationen zu allen Wissensbereichen sekundenschnell aus dem Internet holen kann, hat die Schule nicht mehr diese Aufgaben wie vor hundert Jahren. Sie muss das Wissen innerhalb einer Gemeinschaft nutzbar machen, die Jugendlichen müssen lernen, wie man sich austauscht, gemeinsam Projekte entwickelt, statt gegeneinander zu arbeiten, wie man Verantwortung übernimmt und Probleme originell und auf verschiedene Weise löst. Also 45 Minuten Geschichte, dann 45 Minuten Mathe und so weiter, das halte ich für eine Vergeudung von Potenzial, das ist sträflich. Unsere Schüler erwerben nicht nur das Wissen, sondern auch die Kompetenz, etwas damit anzufangen. Trotzdem schicken manche Eltern ihre Kinder nach der sechsten Klasse ins Gymnasium, weil sie den sicheren Weg zum Abitur gehen wollen. Aber im Allgemeinen ist das Verhältnis zwischen den Eltern und uns vertrauensvoll und intensiv. Wir haben ja eine ganz gemischte Elternschaft, es ist eher so ein, na, sagen wir mal: bildungsnahes Publikum, es sind schon Leute, die sich viele gute Gedanken über die Erziehung der Kinder machen, die auch oft aktiv mitarbeiten. Also, unsere Eltern sind in diesem Sinne Avantgarde, aber keine Geldelite, es gibt hier auch Eltern, die arbeitslos sind, die Sozialhilfeempfänger sind. Unser Prinzip ist ja Heterogenität. Aber es gibt keine Ausländer. Wer zieht denn schon nach Potsdam, wenn Berlin vor der Tür ist – um sich hier ‚aufschlagen‘ zu lassen, vielleicht?!
Also, wir legen sehr großen Wert darauf, dass bestimmte Tendenzen, die an vielen anderen Schulen große Probleme verursachen, besonders Gewalt, bei uns sofort ausgegrenzt werden. Und sie haben es ja vorhin auch sehen können, wir haben zum Beispiel keine Schüler, die gepierct sind oder tätowiert. Unsere Kinder gehen aufrecht, weil sie sich frei fühlen, und wir haben fast keine adipösen Kinder, weil sie sich auch viel mehr bewegen. Also, unsere Kinder sehen auch anders aus als an den Gesamtschulen üblicherweise. Das Äußerste ist: Wir haben drei bis vier Schüler, die einen Ohrring tragen. Manchmal kommen ja hier Studenten und auch Lehrer her … tock, tock, tock … die sind vernietet und beringt hier und hier und hier. Eine kam mal von der Uni, voller Ringe, sie wollte hier ein Praktikum machen. Ich sagte ganz rigoros: Es tut mir Leid, ich muss das ablehnen, ich möchte meine Kinder an dieser Schule nicht mit ihrem Problem konfrontieren. Sie nannte mich intolerant, aber auf diesen verwaschenen Toleranzbegriff wird in solchen Momenten ja immer zurückgegriffen, auf dieses Alles-ist-möglich. Also mit diesem ständigen Bestreben, ein richtiges Verhältnis zwischen Freiheit und Struktur herzustellen, damit ist das gesamte Lehrerkollegium beschäftigt, und da herrscht auch weitgehende Einigkeit.
Den Lehrern wird hier ja eine Menge an Mehrarbeit abverlangt, nicht nur durch die vielen pädagogischen Gespräche mit Kollegen, Schülern und Eltern, Konferenzen und so weiter, sie müssen zusätzlich die sehr umfangreichen und sehr genauen Lernentwicklungsberichte über jedes Kind schreiben – das sind sozusagen unsere Zeugnisse, die, als Ergänzung auch zu unseren selbst entwickelten Pensenbüchern, sachlich und differenziert Auskunft geben, damit sich auch die Eltern über den Leistungsstand ihrer Kinder informieren können. Trotzdem genießen wohl fast alle die Befreiung aus den alten Verhältnissen. Sie haben hier als Lehrer eine demokratische Ebene erreicht. Die ist schon beachtlich. Denn sie müssen sich ja auch in dieser veränderten Rolle immer sicher fühlen. Sie stehen nicht mehr frontal vor der Klasse, sondern müssen sich frei im Raum bewegen, sie werden von vorn, von hinten, von allen Seiten und aus unmittelbarer Nähe gesehen. Sie sitzen auf der Erde und machen eine Präsentation – Präsentation, das bedeutet Einführung in ein Thema. Und da gibt es auch mal Lehrer, die sagen: ‚Ich gehe nicht auf die Erde!‘ Das gibt es auch, diese Angst, sich lächerlich zu machen. Also Lernen ist wild und chaotisch, auch für die Lehrer. Mal zurück, dann wieder vor, deshalb ja auch die altersgemischten Lerngruppen. Das ist eben auch Montessori-Pädagogik, jeden da individuell abholen, wo er gerade ist.
So, jetzt zeige ich Ihnen noch, was Montessori-Pädagogik ist. Es ist – die Dinge begreifen.“ Sie steht auf und bringt ein Kästchen voller Bausteine. Sie baut, mit Hilfe eines Stützteils, das sie nach Vollendung herauszieht, zügig einen romanischen Gewölbebogen auf. Während sie den Schlussstein mit routinierter Geste einfügt, sagt sie: „Normalerweise bau’ ich es langsam auf und so, dass ich jeden einzelnen Stein hinlege. Ich hab’s jetzt gerade mit den 14-Jährigen gemacht, sie waren begeistert. Man kann auch noch einen Eimer Wasser draufstellen und zeigen, wie sich die Steine unter der Last nur noch mehr gegenseitig stützen, statt einzustürzen. Es gibt auch faszinierende Mathematikmaterialien, ich könnte Ihnen stundenlang davon erzählen. Das Entscheidende bei diesen Montessori-Materialien sind immer drei Prinzipien: 1. Es geht immer nur um eine Sache, nicht alles auf einmal. 2. Es geht um Chaos und Ordnung und Struktur, um die Verbindung miteinander. 3. Es geht um Fehlerkontrolle. Wenn man hier was falsch macht, funktioniert es nicht. Also die Sache unterrichtet das Kind beim Ausprobieren, und nicht der Lehrer. Das ist sozusagen der Kern der Pädagogik. Das ist Begreifen. Die Fehlerfreundlichkeit hat Montessori gut beschrieben. Man lernt eigentlich nur aus Fehlern. Also Heiner Müller hat gesagt: ‚Macht Fehler, und macht sie schneller! Woraus sonst wollt ihr denn lernen?‘ Das ist mein Lieblingssatz.
Mein allerliebstes Lieblingsmaterial von Montessori ist aber das so genannte schwarze Band. Ja, das sieht aus wie eine Stoffbahn beim Schneider, aufgewickelt auf einen Bambusstock. Diese fünfzig Meter schwarzen Stoffs rolle ich langsam und in Phasen auf dem Flur aus. Ich erzähle dazu die Geschichte der Entstehung der Erde und des Lebens. Nach 30 Metern, da kommt dann so allmählich das Leben, im Wasser, der Stoff bleibt schwarz, der Stoff bleibt auch nach 50 Metern noch schwarz, denn die Geschichte der Menschheit, auf die ja alle warten, beginnt erst auf dem letzten Zentimeter. Und dieser letzte Zentimeter ist rot. Da habe ich Erwachsene schon weinen sehen, wenn der entrollt wird. Da erst tauchen wir auf. Alle wissen es, rein theoretisch, aber ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich das sehe: So viele Millionen Jahre ist die Erde alt, dann tauchen wir auf und schaffen es in kürzester Zeit, dass vielleicht mal alles den Bach runtergeht.“ Sie legt den Stoffballen zurück aufs Regal und sagt: „So, das ist es also im Prinzip, was wir hier machen.“
Wir möchten nun auch noch ein wenig zur Biografie erfahren. Sie sagt: „Ach je!“, lacht amüsiert und sagt: „Das beginnt finster! Ich bin im Saarland geboren. Mein Vater hat im Suff eine Frau totgefahren, er hat meine Mutter verprügelt vor meinen Augen, er war Alkoholiker. Und die schicksalshafte Wende kam sozusagen durch John F. Kennedy, der 1963 in Berlin sagte: ‚Ich bin ein Berliner‘, denn in diesem Zusammenhang wurden damals Arbeitskräfte angeworben für Berlin. Das war ja ‚Frontstadt‘. Meine Mutter war Kindergärtnerin. Und so sind wir – ich war sieben, mein Bruder war zwei – von einem Tag auf den anderen mit unseren Köfferchen von einem kleinen Dorf im Sauerland in die Großstadt Berlin gefahren. Anderer Dialekt, und ich hatte einen Seitenzopf! Alle haben gelacht. Wir wohnten in Kreuzberg, Hinterhof, am Mittag musste man schon Licht anmachen. Ich war ein Schlüsselkind, mein Bruder war im Hort, und abends hat sich unsere Mutter dann allerdings sehr um uns gekümmert. Aber es war alles sehr schwierig. Meine Kindheit war irgendwie mit einem Schlag beendet, ich bekam diese ganze existenzielle Krise unmittelbar zu spüren. Ich musste viele Aufgaben übernehmen, habe meinen Bruder verdroschen, mich irgendwie durchgeschlagen in der Schule und Abitur gemacht. Die Schule war für mich eine einzige Qual! Und es war klar, ich wollte Lehrerin werden, unbedingt, schon seit der fünften Klasse. Aber nicht, um es besser zu machen, sondern weil ich in diese Machtposition wollte, weil ich meine Machtlosigkeit hasste!
Durch eine Lehrerin kam ich dann an die Uni Oldenburg in diese Lehrerausbildung, wo von Anfang an Theorie und Praxis verzahnt wurden, ein Modellversuch. Für mich war das ein Erlebnis, zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, dass Lernen Spaß machen kann, dass es nicht um Fragen der Macht geht. Da habe ich eigentlich meine Basis her. Dort bin ich sozusagen fürs normale Leben verdorben worden. Also mein besonderer Hochschullehrer war Rudolf zur Lippe, mit dem bin ich heute noch in Kontakt. Ich habe dort auch viel gemacht, politisch und kulturell, war auch im Frauenzentrum in Oldenburg dann. Aber kaum war ich als Lehrerin an der Schule, konnte ich alles vergessen, was ich gelernt hatte. Tasche auf den Tisch, runterbeten, das war es nicht für mich. Ich war dann lange in Berlin-Zehlendorf, und man sagte mir immer nur: ‚Was haben Sie denn, Frau Kegler, warum so unzufrieden, die Schule läuft doch?!‘ Aber das kann doch nicht das Ziel sein, dass die Schule läuft. Ich bin krank geworden plötzlich. Die Haare sind mir ausgefallen. Ich hatte Schuppenflechte und Bronchitis, Lungenentzündung. Alles in mir hat sich gewehrt gegen diese Verödung, und da habe ich nach acht Jahren mich beurlauben lassen für ein Jahr, ich bin ja Beamtin. Ich hatte Familie, hatte inzwischen drei Kinder.
Und in diesem Jahr habe ich dann durch einen Workshop, den ich besucht habe, die Montessori-Pädagogik kennen gelernt. Ich wusste sofort, das ist es! Und dann habe ich die Ausbildung gemacht, und es war gerade zur Zeit der Wende. Im Osten gab’s ein Vakuum, im Westen ein betoniertes Schulsystem. Ich habe hier in Potsdam einfach das Schulamt angerufen und hatte Glück. Die Schulrätin bot mir an, einen Vortrag vor allen Schulleitern Potsdams zu halten, die sollten dann entscheiden, ob sie das wollen oder nicht. Es waren sechzig, ich habe ihnen von der Montessori-Pädagogik erzählt, mit Herzklopfen, danach haben sechs bis sieben Schulen ihr Interesse bekundet. Und so kam ich an diese Schule hier, hatte zuerst nur eine Klasse, mit den Eltern zusammen habe ich das Klassenzimmer renoviert und eingerichtet, und das war eine Provokation, dass bei mir alles anders war. Ich habe dann Kurse angeboten für die Kollegen. Ein paar sind sofort auf meine Seite gekommen, die sind auch heute noch da. Und nach zwei Jahren wurde ich Schulleiterin. Der Schulleiter alten Modells war der Sache nicht mehr gewachsen. Ich habe meine Karten auf den Tisch gelegt und gesagt, wenn ich hier Schulleiterin werde, dann will ich eine Montessori-Schule aus dieser Schule machen. Und das ist gelungen. Und es wird sich weiterentwickeln, hier wird es keine Stagnation geben, wir haben noch viel vor.“