: „Ich wollte nerven“
Zum 25. Geburtstag der Einstürzenden Neubauten ein Gespräch mit Alexander Hacke über das Westberlin der Achtziger und die Kreuzberger Endzeit-Ästhetik
INTERVIEW VON MAX DAX
taz: Alexander Hacke, Sie haben als Mitglied der Einstürzenden Neubauten die Achtzigerjahre über in Westberlin gelebt. Wie sehr stimmen Mythos und Wirklichkeit überein?
Alexander Hacke: Westberlin war einerseits ein Platz, wo sich Leute verstecken konnten, weil sie geflohen waren aus Orten, wo sie sich nicht frei entfalten konnten. Andererseits war Berlin auch ein paradiesischer Ort für jede Art von Aufschneidern und Hochstaplern, weil man hier ziemlich schnell etwas werden konnte – einfach, weil es einerseits eine kleine, dörfliche Community war, andererseits niemand nachprüfen konnte, wo man herkam.
Erinnern Sie sich an solche Hochstapler?
Natürlich. Ohne Namen zu nennen: Es gab viele Maler, die so genannten jungen Wilden, die sich übrigens sehr schnell aus dem Staub gemacht hatten, als die Mauer schließlich fiel.
Die Mauer stand aber bis 1989. Bis dahin prägte die Mauer die Stadt und die Stimmung der Menschen.
Wir behaupteten ja übrigens, dass die Welt 1984 untergehen würde. Bis 1984 haben wir da selbst fest dran geglaubt. Auch deswegen hat uns die Mauer nicht gestört. Im Gegenteil: Noch als die Mauer stand, wünschten wir uns die Mauer bereits zurück.
In dem Song „Kollaps“ der Einstürzenden Neubauten von 1981 heißt es: „Bis zum Kollaps ist nicht viel Zeit / Drei Jahre noch.“
Da haben Sie’s. Wir waren wirklich davon überzeugt, dass die Welt untergehen würde. Aber es hat uns nicht gestört.
War das ein Auswuchs der damaligen omnipräsenten Orwell-Paranoia?
Das lag sicherlich auch an George Orwell, vor allem aber hätten wir es wirklich gut gefunden, wenn wir in Westberlin auch tatsächlich Zeugen des Weltuntergangs geworden wären.
In London oder Paris hat man Anfang der Achtziger nicht so gedacht. Nicht umsonst steht das damalige Westberlin für eine Art von Endzeit-Existenzialismus, auch „Berliner Härte“ genannt.
Wir auf alle Fälle haben mit dieser Untergangsstimmung kokettiert. Dazu sollte man vielleicht anmerken, dass wir sehr viel Spaß dabei gehabt haben. Es ging uns gut, wir fühlten uns großartig. Wir waren schließlich keine Grufties.
Die Parole der Zeit lautete: „Etwas sagen – aber das Gegenteil meinen“, wie es Bettina Köster in Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ ausgedrückt hat?
Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ja, das war wie ein Sport. Aber ich war damals zu klein, um das wirklich durchschauen, zu können. Ich habe intuitiv mitgemischt, aber ich hätte daraus damals keine Philosophie formulieren können.
Ein anderes bemerkenswertes Merkmal der Zeit damals war, dass die Lebenshaltungskosten sehr viel günstiger waren als heute – was einem viel Zeit schenkte, in der man nicht hat fremdbestimmt arbeiten müssen.
Es war einfacher damals. Man konnte mit einem Schritt von der Straße in die Schickeria gelangen – und dabei auf Drogen sein. Bis 1987 habe ich davon gelebt, dass meine Freundinnen in Cafés gearbeitet haben – und ich dort etwas zu essen bekam. Mit dem, was wir an Musik gemacht haben, haben wir absolut gar kein Geld verdient. Aber da wir ja davon ausgegangen waren, dass die Welt so oder so untergeht, spielte es keine große Rolle, ob das, was wir da zustande brachten, Kunst war oder nicht, ob es Geld brachte oder nicht. Und vielleicht hatte man damals nicht diesen unbedingten Wunsch nach Anerkennung, den man heute überall wahrnimmt. Man war einfach zu cool, um Anerkennung für sich einzufordern. Und aus einer solchen Sicht heraus war man auch mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein ausgestattet, wenn man dann musikalisch experimentierte und angeblich „unhörbare“ Sachen komponierte.
Das war aber schon der Anspruch? Das „Unhörbare“ hörbar zu machen?
Es ging darum sich zu überbieten, unaussprechliche Dinge zu tun. Sich selber und die Musik neu zu erfinden. Das war das Wesen der Zeit und das Grundkonzept der Neubauten: „Wir erweitern die Musik, bis es keine Musik mehr gibt.“ Die totale Vernichtung der Musik war unser Ziel. Heute hört man in jeder kommerziellen Chart-Produktion Loops. Und kaum eine Rhythmusspur – von U2 bis R’n’B – ist nicht an irgendeiner Stelle mit Krach aufgepeppt, um besser zu knallen. Wir haben das damals aber nicht gemacht, um Ideenlieferanten für die Hitproduzenten von morgen zu sein, sondern um zu stören, zu nerven, Schmerzen zu verursachen. Andrew Unruh hat damals auf die Frage, welche Musik ihn beeinflusst hätte, geantwortet: „Musik interessiert mich nicht. Ich will nur nerven.“ Das war die Stimmung in Berlin.
Warum eigentlich?
Ich glaube, das hing mit der Jugend zusammen. Wir wollten ja auch den Mädchen gefallen. Und wenn die Mädchen nicht auf die herkömmlichen Signale auf einen aufmerksam werden, dann sendet man eben andere Signale aus. Es ist interessant, dass man, auch wenn man sich abstoßend benimmt oder aussieht, eindeutige Signale aussendet. Wir haben uns ja auch zeitweise in Lumpen gekleidet, einfach, weil dieser Versuch, einander in der Ablehnung der Konsumgesellschaft zu überbieten, überlebensgroß war. Sich Löcher in den Skalp zu rasieren als Ablehnung einer Frisur, gehörte in die gleiche Kategorie. Die Antihaltung ging so weit, dass man auch gegen die anderen war, die ihrerseits gegen die Welt waren. Man wollte noch extremer sein.
Das haben Außenstehende als unfassbare Arroganz verstanden – oder missverstanden?
Es war ein Spiel. Man spielte mit – oder eben nicht. Da gab es nichts misszuverstehen.
Waren Sie eigentlich traurig, als die Mauer schließlich fiel – und sich abzeichnete, dass Westberlin, wie man es kannte, somit der Vergangenheit angehörte?
Ich war erst einmal sehr, sehr verwirrt. Gar nicht so sehr, weil ich mit einem Mal die Möglichkeit hatte, die unbekannte andere Hälfte der Stadt zu erforschen. Ich war eher verschreckt von diesem Menschenaufstand. Als die Leute anzurufen anfingen, dass da draußen die Hölle los sei, da habe ich mich erst einmal fünf Tage lang zu Hause versteckt und bin nicht mehr vor die Tür gegangen. Ich habe die Ereignisse dann über den Fernseher verfolgt – ganz einfach, weil ich vor dem normalen Menschen auf der Straße, und das auch noch in hunderttausendfacher Ausführung, eher Angst habe.
Bedauern Sie, dass diese Zeiten jetzt nichts als Erinnerungen sind?
Es gibt ja dieses schöne Zitat von Falco: „Wer sich an die Achtziger erinnert, hat sie nicht erlebt.“ Für mich war das meine Sturm-und-Drang-Zeit. Das ist die Zeit, die mich geprägt und geformt hat, ganz sicher. Die Achtziger waren sehr kreativ, aber sie waren auch sehr selbstzerstörerisch. Ich weiß nicht, ob ich heute noch einmal so das Bedürfnis hätte, an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit zu gehen, wie ich das damals unbedingt habe ausprobieren wollen.
Was waren das für Belastbarkeitsproben?
Och, zum Beispiel zu gucken, ob man eine Woche lang ohne Schlaf auskommen kann – ich kann feststellen: Das ging. Das ging auch oft, weil es diese weit verbreitete Haltung gab, wonach 24 Stunden nicht genug für einen Tag waren. Ich habe auch mehrere Jahre in Folge fast kein Tageslicht gesehen. Das ging auch. Die Clubs waren auf solcherlei Lebensrhythmen bestens eingestellt: Man konnte morgens um fünf Uhr in das „Risiko“ gehen, und es waren immer noch genügend Leute da. Solche Sachen mussten damals ausprobiert werden. Ich bin nicht gegen Drogen und finde, dass das jeder für sich entscheiden sollte, aber für mich ist so ein harter Lebensstil nichts mehr. Ich habe auch den Eindruck, dass heutige Jugendkulturen ihren Körper nicht mehr so extrem zugrunde richten wie wir damals.
Sie meinen: Mit deutscher Gründlichkeit ihren Körper zugrunde richten?
Genau. Die meisten Leute in der Technoszene haben am Wochenende Substanzen eingeworfen, aber während der Woche gearbeitet. Wir haben dieses Leben ja rund um die Uhr betrieben. Bedauernswert ist vielleicht, dass man sich einen solchen Lebensstil heute gar nicht mehr leisten kann. Das Überleben ist sehr teuer geworden, außerdem gibt es viel weniger Möglichkeiten, sich heute als Künstler auszugeben und entsprechend Zuwendungen zu bekommen. Damals gab es viel mehr Schlupflöcher im System. Die sind weit gehend alle gestopft worden.
Ihre Schilderungen klingen sehr romantisch. Hat man damals eigentlich einem romantischen „Schmerzensideal“ nachgelebt?
Extremismus ist immer ein Romantizismus. Ob man mit dem Rauchen anfängt, weil man hart sein möchte, oder mit dem Rauchen aufhört, weil man härter sein möchte, es ist immer das gleiche Prinzip. Das Einzige, was nach diesem Verständnis nicht romantisch ist, ist die Mäßigung, der Mittelweg, die Vernunft – ein bisschen rauchen.
Wieso war man damals eigentlich so extrem – eine Haltung, die von Außenstehenden immer wieder als „arrogant“ und „unnahbar“ beschrieben worden ist?
Das war sicherlich auch eine Form von Schutz, um Unsicherheit zu verbergen. Und gleichzeitig war es natürlich auch eine Art, Aggressionsabbau zu betreiben. So ein Satz, dass man das alles schließlich nicht machen würde, um andere Leute zu unterhalten – das hatte schon einen wahren Kern, der die Konfrontation auch gesucht hat. Und natürlich war die so genannte Arroganz schon damals eine bewusste Technik der Legendenbildung. Nicht nur hatte jeder, wirklich jeder seinen Namen geändert und einen dazu passenden Mythos sich ausgedacht – wer man ist, woher man kommt, was man bedeutet. Das waren ja frei erfundene Sachen, die man jedoch mit einer gewissen Konsequenz natürlich glaubwürdig leben musste. Ein solches Schauspiel fällt manchmal leichter, als nach seinem eigenen Naturell zu leben.
Was für ein Typ waren Sie?
Ich hatte mit Alexander von Borsig den Adligen gespielt, den es ins „Risiko“ verschlagen hatte. Ich war ja auch als „Oberschüler“ oder „Intellektueller“ verschrien, obwohl ich nach der achten Klasse ohne irgendwelchen Abschluss die Schule verlassen hatte. Ich vermute, das lag an meiner Brille und an meinem Interesse für elektronische Instrumente. „Von Borsig“ klang darüber hinaus wohl auch nach höherer Schulbildung und Eliteinternat, dabei habe ich mich so genannt, weil mein Vater in den Borsigwerken gearbeitet hat.