: Die Quadratur der EU
Die Dienstleistungsrichtlinie soll Arbeitsplätze schaffen und soziale Standards sichern, fordern die EU-Regierungschefs. Das wird kaum möglich sein
AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben Kommissionspräsident José Manuel Barroso an seinem Geburtstag gestern in Brüssel eine Mogelpackung geschenkt. Zwar wird ihm die Demütigung erspart, die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie nun doch noch zurückziehen zu müssen. Aber der Portugiese versprach öffentlich, weit gehende Änderungswünsche, die die 25 Staats- und Regierungschefs gerade auf ihrem EU-Gipfel in Brüssel gefordert hatten, zu berücksichtigen.
Beide Institutionen planen eine Quadratur des Kreises, die der EU-Ratspräsident, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, so skizzierte: „Die Überarbeitung des Textes wird dem doppelten Gebot Rechnung tragen, den Dienstleistungsmarkt zu öffnen und gleichzeitig das europäische Sozialmodell zu respektieren nach der Devise: Ja zur Dienstleistungsliberalisierung, nein zum Sozialdumping.“
Noch am Montag hatte José Manuel Barroso recht selbstbewusst erklärt, er werde sich dem politischen Druck der Mitgliedstaaten und ganz besonders aus Frankreich nicht beugen und sich zum Sündenbock für innenpolitische Probleme machen lassen. „Wenn es in der französischen Öffentlichkeit Verwirrung über Ziele und Folgen der Dienstleistungsrichtlinie gibt, ist das nicht die Schuld der EU-Kommission.“
Bezogen auf das Verfassungsreferendum in Frankreich Ende Mai sagte der Kommissionspräsident: „Als die Regierungschefs den Verfassungsvertrag unterzeichnet haben, taten sie das, weil sie dachten, sie könnten ihre Bürger davon überzeugen.“ Barroso erinnerte daran, dass die Verfassungsdebatte in Frankreich nicht nur mit der Sorge vor Sozialabbau vermischt sei, sondern auch mit vielen anderen Problemen. „Wenn es Leute in Frankreich gibt, die sagen, in dieser Entscheidung geht es eigentlich um den Beitritt der Türkei, ist das ebenfalls nicht unsere Schuld.“ Wenn die Kommission in den kommenden zwei Jahren auf die Empfindlichkeiten jedes Mitgliedslandes eingehen müsse, wo ein Verfassungsreferendum geplant sei, könne sie die Arbeit komplett einstellen. Frankreich sei schließlich nur eines von fünfundzwanzig EU-Mitgliedern, so Barroso weiter. Beim EU-Gipfel schlug der Kommissionspräsident dann jedoch eine ganz andere Tonart an: „Frankreich ist ein Gründungsmitglied. Ohne französische Zustimmung zur Verfassung sieht sich Europa allergrößten Problemen gegenüber.“
Eine Antwort auf die Frage, was denn nun konkret am Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie geändert werden solle, war gestern weder von Kommissionspräsident Barroso noch von Ratspräsident Juncker zu bekommen. Inhaltliche Einzelheiten hätten die Gipfel-Harmonie vielleicht rasch zerstört.
Der Eindruck, es gebe einen Grabenkrieg zwischen der alten Europäischen Union, die ihre Privilegien nicht aufgeben will, und den zehn neuen Mitgliedern, die möglichst rasch von den Grundfreiheiten des Binnenmarktes profitieren wollen, sollte unbedingt vermieden werden. Die Menschen interessierten sich nicht für die von den Politikern formulierten Lissabon-Ziele Wachstum, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, erklärte Jean-Claude Juncker. Die Menschen wollten vielmehr Arbeit, gute Ausgangsbedingungen für Unternehmensgründungen, offene Märkte, funktionierende öffentliche Dienstleistungen, gute Bildungsmöglichkeiten, eine saubere Umwelt und Rahmenbedingungen, um Arbeit und Familienleben zu vereinbaren. Darauf müsse die Dienstleistungsrichtlinie eine Antwort geben.
Das klingt wirklich gut. Das laufende Gesetzgebungsverfahren für die Dienstleistungsrichtlinie wird aber zeigen, dass es die Eier legende Wollmilchsau im wirklichen Leben nicht gibt. Das neue Gesetz wird entweder nationale bürokratische Hürden abbauen, Wachstumsreserven mobilisieren und die Sozialstandards auf niedrigerem Niveau einpegeln. Oder es wird das Sozialgefälle in Europa erhalten, keine Markteffekte haben und den europäischen Vorschriften ein paar sinnlos bedruckte, folgenlose Seiten Papier hinzufügen.
Bis sich abzeichnet, welchen Weg Parlament und Rat wirklich ansteuern, ist das Verfassungsreferendum in Frankreich längst vorbei.