eu-gipfel : Der Volkszorn und Herr Bolkestein
Na endlich, das böse Europa hat ein Gesicht – das eines weißhaarigen älteren Herrn mit dem schnarrenden Namen Frits Bolkestein. Der hat als EU-Binnenmarktkommissar die Dienstleistungsrichtlinie erfunden und damit den Ausverkauf des europäischen Sozialmodells eingeläutet. Doch die Regierungschefs, allen voran Gerhard Schröder aus Deutschland und Jacques Chirac aus Frankreich, haben beim Gipfeltreffen in Brüssel mit vereinten Kräften das europäische Sozialmodell vor dem bösen Bolkestein gerettet.
KOMMENTARVON DANIELA WEINGÄRTNER
An dieser Geschichte stimmt kein einziges Wort. Wahr ist, dass Chirac und seine Kollegen die europäische Verfassung vor dem französischen Volkszorn retten wollen. Scheitert Ende Mai in Frankreich das Referendum, ist das Verfassungsprojekt überall in Europa am Ende. Um dieses Desaster zu verhindern, taten die Akteure in Brüssel alles, um die Bürger zu beschwichtigen. Deren Sorgen sind berechtigt. Doch die Dienstleistungsrichtlinie ist nur ein Symbol für die Kernfrage, welche Richtung Europa nehmen soll.
Die Taktik, nun dem Stammtisch zu geben, was der Stammtisch haben will, ist zynisch und kurzsichtig. So wie norddeutsche Schlachtbetriebe jetzt schon ganz ohne Dienstleistungsrichtlinie Pleite gehen, werden die Zumutungen für jeden Einzelnen in der liberalisierten Wirtschaftswelt auch künftig zunehmen. Vielleicht lassen sich unbequeme Wahrheiten auf die Zeit nach dem 29. Mai verschieben, doch irgendwann kommen sie ans Licht. Ganz sicher zur Unzeit, denn irgendwo in Europa ist immer gerade Wahltag.
Die eine Wahrheit lautet, dass Wachstum ohne soziale Verwerfungen nicht zu haben ist. Wenn die Menschen das mörderische Globalisierungstempo nicht mitmachen wollen, müssen sie schrumpfende Wirtschaftsleistung und Einkommensverluste in Kauf nehmen. Sie müssen, wenn sie diesen Weg einschlagen wollen, dann auch andere Parteien an die Macht wählen.
Die zweite Wahrheit lautet, dass nicht alles Gute zu Hause passiert und alles Böse aus Brüssel kommt. Es klingt gut, wenn die Regierungschefs beschließen, Europa fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Für die daraus entstehenden Gesetzesvorschläge – etwa die Dienstleistungsrichtlinie – soll dann aber allein die böse EU-Kommission verantwortlich sein. Die Wählerinnen und Wähler sind hoffentlich nicht so blöd, dass sie dieses Schwarze-Peter-Spiel auf die Dauer mitmachen.