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Archiv-Artikel

Die Anatomiestunde

Schnitte und Schleifen: Michael Turner erzählt in seinem Roman „Das Gedicht des Pornographen“ von den Verletzungen einer Seele, die in einer Atmosphäre der Doppelmoral ihre Unschuld verliert

Das Pornografische wird bei Michael Turner zum Teil eines Erzählgestus

VON SEBASTIAN DOMSCH

Der Titel von Michael Turners Roman „Das Gedicht des Pornographen“ könnte beim Leser zwei unterschiedliche Erwartungen wecken, doch nur eine davon wird vom Autor auch erfüllt. Steigt man in die Lektüre des Romans ein, so scheint sehr schnell klar, um welche es sich dabei handelt. Prosaischer als dieser könnte ein Roman kaum anfangen, dafür spielen Pornos von der ersten Zeile an eine Rolle. Es beginnt damit, dass der namenlos bleibende Erzähler die Frage eines fast allwissenden Inquisitors beantwortet, wann er zum ersten Mal einen Porno gesehen hat. Schon nach den ersten zwei Absätzen wandelt sich die Erzählung für ein paar Seiten zum Drehbuch, inklusive der dieser Form eigenen Nüchternheit.

Wer im weiteren Verlauf des Romans nach weiteren „Stellen“ suchen möchte, wird bald mit den Fingern beider Hände nicht mehr auskommen, denn der Roman ist auf jeden Fall insoweit pornografisch, als er Sexualität mit großer Regelmäßigkeit und erbarmungslos ungeschützt darstellt. Springt man jedoch nicht von Stelle zu Stelle, sondern arbeitet sich, nicht immer ganz mühelos, durch den Text hindurch, wird das Pornografische zum Teil eines Erzählgestus, der genau das Gegenteil von einem Porno will. Wenn die Kamera, deren Sehweise den ganzen Roman hindurch ein bestimmender Faktor ist, nur lange genug auf ihr Objekt draufhält, wird der Blick des Voyeurs zu dem des Anatomen. Es ist wie mit dem Spiel, bei dem man ein Wort nur lange genug wiederholen muss, bis es komplett seinen Sinn verloren hat. Auf dieselbe Art schlägt das Erregungspotenzial der pornografischen Passagen in Michael Turners Roman um und macht einem allgemeinen Zustand Raum, den man als Entzauberung bezeichnen könnte.

Entzaubert ist im Roman nicht nur die Vor- und Darstellung von Sexualität, dies ist nur die wichtigste Metapher, die Turner verwendet, um den Ausgang aus einem Unschuldszustand in den der Erfahrung zu zeigen. Sein Erzähler und Titelheld zeichnet, angeleitet durch das jenseitige Verhör, den Übergang seiner Kindheit in ein verfrühtes Erwachsenenleben im kanadischen Vancouver nach. Seine erste Berührung mit dem Medium Film hat er in der siebten Klasse, und schon die hat eine ungute Verbindung zur Sexualität. Nachdem der beliebte Klassenlehrer der sexuellen Belästigung eines Kindes verdächtigt wird und von der Schule fliegt, verwandelt die neue Aushilfslehrerin ganz im Sinne der progressiven Pädagogik der Siebzigerjahre die gesamte Klasse in ein Filmkollektiv. Zuerst beteiligen sich alle mit großer Begeisterung, doch bis zur letzten Konsequenz bleiben nur der Erzähler und seine Freundin Nettie dabei, und am Ende bekommt er seine eigene Kamera.

Zum Pornografen wird er dann durch Zufall, als er das extravagante Liebesspiel seiner Nachbarn inklusive Umschnalldildo und Hund nicht nur beobachtet, sondern auch auf Zelluloid bannt. Der Film entwickelt sich in den avantgardistischen Kunstkreisen der Stadt schnell zum Hit, und der Erzähler reist mit dem Projektor von einer Vorführung zur nächsten. Schon bald drängt sich ihm ein windiger, aber charismatischer Geschäftsmann als Partner auf, und er steigt in die serienmäßige Produktion so genannter Loops ein.

In den Ausläufern der sexuellen Revolution begann der Siegeszug der Pornografie, die zumindest zu dieser Zeit noch mit antibürgerlicher Subversion assoziiert war. Der Kauf einer Kinokarte für den spektakulär erfolgreichen Film „Deep Throat“ (1972) konnte auch als politisches Statement gewertet werden. Heute ist Pornografie zu einer unsichtbaren, milliardenschweren Industrie geworden, und statt antibürgerlicher Subversion hat sich ein bürgerliches Interesse für das Genre und seine Produktionsbedingungen entwickelt, die Filme wie „Larry Flint“, „Boogie Nights“ oder, in diesem Sommer, „Inside Deep Throat“ hervorbringt. Auch Turners Roman spielt mit den Erwartungen dieses halb dokumentarischen, halb erregten Interesses, doch will er letzten Endes nicht einen Blick hinter die Kulissen werfen, sondern von den Verletzungen einer Seele berichten, der in einer Atmosphäre der Doppelmoral die eigene Unschuld abhanden kommt.

Ein Porno ist „Das Gedicht des Pornographen“ daher nicht. Stattdessen offenbart sich der gesamte Roman in seiner Konstruktion aus Erzählpassagen, Drehbüchern, Briefen und Verhörprotokollen als eine poetische Komposition, die man, mit ein wenig gutem Willen, als Gedicht bezeichnen könnte. Es ist diese eher unwahrscheinliche Erwartung, die Turner am Ende erfüllt.

Michael Turner: „Das Gedicht des Pornographen“. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Liebeskind, München 2005, 432 Seiten, 22 €