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Archiv-Artikel

Nicht falsch, sondern anders gerechnet

Die Nazis finanzierten den Krieg, indem sie Juden und eroberte Gebiete ausplünderten. So sicherten sie sich die Loyalität der Deutschen. Dieses Bild ergibt sich, wenn man die Kriegseinnahmen zugrunde legt. Eine Antwort auf die Kritik von J. Adam Tooze an dem Buch „Hitlers Volksstaat“

VON GÖTZ ALY

Am vergangenen Wochenende besprach J. Adam Tooze mein Buch „Hitlers Volksstaat“ im Magazin dieser Zeitung (taz vom 12./13. 3. 2005). Neben einigem Lob steht der Vorwurf, meine Zahlen zur deutschen Kriegsfinanzierung stimmten nicht; sie seien das Ergebnis grober Rechenfehler. In der Sache geht es um die Frage, wie es sich um die steuerliche Belastung der Deutschen in der Zeit zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 verhielt, wie sich der Kriegshaushalt zusammensetzte, wie das Verhältnis von laufenden Kriegseinnahmen und Kreditaufnahme zu beurteilen ist.

Ich setze den Anteil der externen Kriegseinnahmen – Einnahmen also, die den besetzten Staaten, Zwangsarbeitern und verfolgten Juden abgepresst wurden – mit ca. 70 Prozent an, Tooze hält dem entgegen, es seien ca. 25 Prozent Kriegslasten gewesen. Die Differenz erklärt sich zu einem erheblichen Teil leicht: Ich spreche von den Kriegseinnahmen; der Kritiker geht von den gesamten Kriegsausgaben aus. Die Verwechslung bildet die Grundlage seiner Polemik. Wie jeder weiß, können Einnahmen und Ausgaben, zumal im Krieg, weit auseinander klaffen.

An Zivil- und Kriegsausgaben wandte das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg etwa 620 Milliarden Reichsmark auf. Von diesem Betrag sind pro Jahr rund 20 Milliarden Reichsmark – insgesamt also 110 Milliarden Reichsmark – als ziviler, auch im Frieden erforderlicher Grundbedarf des Großdeutschen Reiches abzuziehen. Demnach verblieben rund 510 Milliarden Reichsmark, die auf der deutschen Seite für Kriegszwecke verausgabt wurden. Davon konnte knapp die Hälfte – das war im historischen Vergleich ein außerordentlich hoher Anteil – aus laufenden Einnahmen gedeckt werden. Der Rest wurde zum kleineren Teil mit der Notenpresse, weitgehend aber mittels lang- und vor allem kurzfristig fälliger Schuldtitel des Reiches auf dem deutschen Geldmarkt beschafft. Diese Kriegskredite bildeten für die Deutschen während der NS-Zeit keine Belastung und blieben ihnen insgesamt gesehen gleichgültig. All das dürfte zwischen Tooze und mir nicht strittig sein.

Unter der Kapitelüberschrift „Kriegseinnahmen 1939–1945“ betrachte ich die Quellen der laufenden Einnahmen genauer. Sie stammten tatsächlich zu mehr als zwei Dritteln aus externen Ressourcen, wurden also Menschen abgepresst und geraubt, die nicht zur deutschen Volksgemeinschaft zählten. Nur der kleine Rest der laufenden Kriegseinnahmen musste von den deutschen Steuerzahlern aufgebracht werden, und zwar in der Weise, dass die Besserverdienenden besonders hohe und die durchschnittlich und wenig Verdienenden äußerst geringe Lasten zu tragen hatten.

Im Gegensatz zu vielen anderen Historikern zähle ich die Geldzuflüsse, die der Reichsfiskus in zunehmendem Maß aus Zwangsarbeit bezog, nicht zu den laufenden internen Einnahmen des Reiches, sondern zu den externen. Sie stammten aus geraubter Arbeitskraft. Dasselbe gilt für den riesigen, ständig wachsenden Haushaltsposten, der unter dem schwammigen Titel „allgemeine Verwaltungseinnahmen“ geführt wurde. Da ich vorsichtig kalkuliere, wird die weitere Forschung den Anteil der externen Kriegseinnahmen Deutschlands vermutlich noch höher ansetzen müssen. Erklärtes Ziel der fiskalischen Ausplünderung Europas und der als minderwertig eingestuften Menschen war es, „den deutschen Steuerzahler zu schonen“, um seine zumindest passive Loyalität zur NS-Regierung zu wahren.

Was demgegenüber die Kreditaufnahme des Reiches, also die zweite Quelle der deutschen Kriegsfinanzierung betrifft, so behandle ich sie unter der Kapitelüberschrift „Virtuelle Kriegsschulden“. Natürlich wurden diese Schulden mit der Niederlage auf die Gesamtheit der deutschen Staatsbürger umgelegt. Doch darauf kommt es in meinem Buch nicht an. Die Frage, wie hoch die Kriegslasten für die Deutschen nach 1945 wirklich waren, ist in den dort entwickelten Zusammenhängen uninteressant. Ich will wissen, was das nationalsozialistische Deutschland im Innersten zusammenhielt. Der Abschnitt beginnt mit dem klaren Satz: „Aus der rein spekulativen Technik der Kriegsfinanzierung folgte der Zwang zum Siegfrieden.“

Mit Rücksicht auf die allgemeine Stimmung traute sich Hitler niemals, das Volk mit den realen Staatsschulden zu konfrontieren. Allerdings wurde viel dafür getan, mögliche Ängste vor einer mit der Schuldenmacherei verbundenen Inflation zu zerstreuen. 1942 teilte das Reichsfinanzministerium der Öffentlichkeit mit, den Kriegsschulden stünde „auf der Aktivseite ein Zugang an Werten und Ertragsquellen gegenüber, die ein Mehrfaches der gestiegenen Reichsschuld betragen“. Es war vorgesehen, diese am Ende mit Hilfe des „gewaltigen Sachvermögens“ zu tilgen, „das durch das deutsche Schwert gewonnen“ worden sei, vornehmer und im Stil damaliger Finanzwissenschaftler gesagt: „durch den Rückgriff auf ausländische Volkswirtschaften“.

Tooze blickt vom Endergebnis her auf die deutsche Kriegswirtschaft und sortiert. Unter dem methodisch unsinnigen Begriff „Symmetrie“ rechnet er die Kredite, die beispielsweise der französische Staat aufnehmen musste, um die Tribute an die Deutschen zu bezahlen, mit den bei den deutschen Banken, Sparkassen und Lebensversicherungen untergebrachten internen Kriegsschulden des Deutschen Reiches zusammen und stellt buchhalterisch korrekt fest, beides seien Kredite gewesen. Ein solches formales Kriterium ist aber in diesem – und übrigens in vielen anderen Fällen – uninteressant. Das historische Problem liegt anders. Die französischen Kontributionen bildeten – gleichgültig wie sie innerhalb Frankreichs beschafft wurden – reale Einnahmen des Deutschen Reiches, von denen sofort jeder Deutsche profitierte. Dagegen verzögerten die für den Krieg auf dem deutschen Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite die reale Belastung der deutschen Bevölkerung mit dem Ziel, diese Schulden so bald wie möglich versklavten Völkern aufzubürden. Deswegen bezieht sich meine Rechnung – wie die Kapitelüberschrift explizit sagt – auf die Kriegseinnahmen des Reiches und nicht auf die Gesamtheit der Ausgaben.

In meinem Buch „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ geht es darum, eine komplexe politische Situation zu beschreiben und verständlich zu machen. Deshalb spreche ich vor allem von laufenden Kriegseinnahmen und der damit verbundenen Lastenverteilung. Sie waren für die allgemeine Stimmung in Deutschland ausschlaggebend, nicht die Schulden, die von der politischen Führung erstens verheimlicht und zweitens als zu vernachlässigendes – wie ich schreibe: „virtuelles“ – Problem weggeredet wurden.