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Archiv-Artikel

1.474 Richtlinien in einem Jahr

AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

Alexander Schaub ist ein Urgestein im europäischen Geschäft. Seit über dreißig Jahren arbeitet er für die EU-Kommission, auch wenn man dies dem heute 63-Jährigen nicht ansieht. Angefangen hat Schaub Anfang der 70er-Jahre im Bonner Wirtschaftsministerium, wo er mit scharfer Kritik an den Kosten der EU-Agrarpolitik Aufsehen erregte. Von dort wechselte er ins Kabinett von Kommissar Ralf Dahrendorf, war Direktor für Industrie- und Außenhandel sowie Generaldirektor für Wettbewerb. Seit zwei Jahren hat er nun den Posten des Generaldirektors der Abteilung „Binnenmarkt und Dienstleistungen“ inne.

Der Duisburger hat alles miterlebt: den Anfang mit nur sechs und dann neun Mitgliedstaaten, die zahlreichen Erweiterungen in den vergangenen Jahrzehnten, die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes, die Einführung des Euros bis hin zur aktuellen Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie. Und Alexander Schaub hat sie alle als „Chef“ erlebt: Jacques Delors, Jacques Santer, Romano Prodi und nun José Manuel Barroso. Unter seinen zahlreichen Vorgesetzten haben ihn besonders die Wettbewerbskommissare Karel Van Miert und Mario Monti beeindruckt. Er kennt die Kommission und ihre Funktionsweisen in- und auswendig. Und er weiß, dass sich seine Institution – wie auch die EU selbst – in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert hat. „In der Gründerzeit war es möglich, dass geniale Köpfe hier prächtige Sachen machen konnten. Ein brillanter, erfahrener Beamter konnte schon mal beim Frühstück am Montagmorgen sagen: ‚Dieser oder jener Zustand in Europa ist nicht vernünftig. Da machen wir mal eine Richtlinie.‘ Das ist heute mit der Perfektionierung der internen Abläufe nicht mehr möglich – zum Glück!“

Das hängt natürlich zuallererst damit zusammen, dass sich die Zahl der Mitgliedstaaten rasant vergrößert hat. Wenn die EU-Kommission heute etwa die Genehmigungsverfahren für Arzneimittel harmonisieren will, muss sie 25 verschiedene Regelungen vergleichen und aneinander anpassen. Im vorigen Jahr waren es noch 15 und 1973, zu Beginn von Schaubs Europa-Karriere, sogar nur neun.

Mittlerweile arbeiten rund 440 Angestellte und Beamte unter seiner Führung. Die Binnenmarkt-Generaldirektion ist noch eine der kleineren. Insgesamt hat die Kommission zurzeit knapp 24.000 Bedienstete. Damit ist die Mannschaft von Barroso von allen EU-Institutionen am besten ausgestattet. Denn insgesamt – also mit EU-Parlament und Rat – arbeiten rund 39.000 Menschen bei den Behörden. Mit den Erweiterungen und mit den immer größer werdenden Kompetenzen auf EU-Niveau wuchs auch die Anzahl der Mitarbeiter: Vor zehn Jahren waren es nur rund 27.000. Dennoch muss die Zahl relativiert werden. Allein in der Kölner Stadtverwaltung arbeiten 17.000 Menschen, in München sind es sogar 28.000. Und die sind nicht für 25 Mitgliedstaaten, sondern für eine einzige Stadt zuständig.

Sind Überweisungen zu teuer?

Der Bürokratie fiel die Kreativität aus den Anfangsjahren zumindest teilweise zum Opfer. „Heute gibt es keine improvisierten Ideen mehr. Alle Vorschläge werden untersucht – vor allem mit den betroffenen Kreisen. Es wird geprüft, ob es sich wirklich um ein europäisches Problem handelt oder ob die Mitgliedstaaten das nicht auf nationaler Ebene regeln können. Und wir schauen uns die möglichen Auswirkungen auf die Bürger und die Wirtschaft sehr genau an“, sagt Schaub.

Die Ideen zu den Richtlinien selbst kommen meist von den Regierungen der Mitgliedsländer oder durch eine Ansammlung von Einzelbeschwerden. „Wenn uns Menschen schreiben, dass es derart kompliziert und teuer ist, Geld zu überweisen aus Belgien für den Sohn, der in Deutschland studiert, oder wenn Berufsverbände sich darüber beklagen, dass bestimmte Dinge in den USA rechtlich geregelt sind, hier aber nicht, und das erhebliche Wettbewerbsnachteile mit sich bringt“, dann wird die Kommission aktiv, prüft die Sachverhalte und schlägt eventuell eine entsprechende EU-Richtlinie zur Harmonisierung vor.

Bis in den vergangenen Herbst hinein arbeitete Alexander Schaub unter dem Niederländer Frits Bolkestein. In der neuen Kommission ist Charly McCreevy aus Irland sein Boss. „Unser neuer Kommissar ist kein Fan von endloser Gesetzgebung. Da müssen wir ihn wirklich überzeugen, dass eine bestimmte Richtlinie sinnvoll ist und Bürokratie spart, sonst hat die keine Chance.“

Kein Wunder also, dass an manchen Texten intern erst einmal mehrere Monate, manchmal sogar Jahre gearbeitet wird, bevor die Kommissionsbeamten sie öffentlich präsentieren. Jede Generaldirektion, davon gibt es 42, stellt ihre eigenen Arbeitsprogramme auf, die aber vom Kommissionskollegium gebilligt werden müssen. Erst, wenn ein Rechtsetzungsvorschlag intern abgestimmt ist, werden die übrigen Generaldirektionen konsultiert. Schließlich braucht ein Vorschlag die Zustimmung der Mehrheit der Kommissare, um überhaupt als Kommissionsvorschlag dem EU-Parlament und den Mitgliedstaaten präsentiert werden zu können.

Als Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler und Absolvent des Europa-Kolleg in Brügge kannte Alexander Schaub die Grundlagen für die europäische Gesetzgebung schon bei seiner Ankunft im EU-Zirkus. Und die Komplexität von Verwaltungen war ihm aus seiner Zeit beim Bundeswirtschaftsministerium vertraut. Trotzdem ist in Brüssel alles noch eine Spur komplizierter. Das liegt schon allein daran, dass die Mitarbeiter nicht nur aus einem, sondern in der Zwischenzeit aus 25 Mitgliedstaaten kommen. Sie bringen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch unterschiedliche Arbeitskulturen mit in die Kommission. Beim deutschen Generaldirektor Schaub verständigen sich die Beamte vor allem auf Englisch oder Französisch.

Zu wenig polnische Beamte?

Die Belgier stellen mit knapp 5.000 die Mehrheit der Mitarbeiter der Kommission, gefolgt von Italien und Frankreich. Aus Deutschland kommen rund 2.000. Die Institution wird noch immer von den „alten“ Mitgliedstaaten dominiert. Zum Vergleich: Während sogar das kleine Land Luxemburg, das ja seit Anfang an Mitglied der EU ist, über 300 Mitarbeiter stellt, kommen aus Polen gerade einmal 144. Die polnische Regierung beschwerte sich dann auch kürzlich, es würden nicht genügend Posten – vor allem in den Spitzenpositionen – mit ihren Landsleuten besetzt. Auf den so genannten A-Posten, also zum Beispiel die Generaldirektoren wie Alexander Schaub, sitzen noch immer vor allem Franzosen (1.248), Deutsche (1.272) und Belgier (1.151) . Die Kommission hat sich zwar verpflichtet, in den kommenden Jahren mindestens jeweils eine Stelle als Generaldirektor oder Stellvertreter an einen Beamten aus den neuen Mitgliedstaaten zu vergeben, aber dazu brauche man eben Zeit, heißt es von der Personalführung.

Die hohe Beamtenzahl der Kommission ließe darauf schließen, dass an der Entwicklung einer Richtlinie innerhalb des Kommissionsapparats verhältnismäßig viele Mitarbeiter beteiligt sind. Aber das Gegenteil ist der Fall, sagt Alexander Schaub. An der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie, die ja in seiner Abteilung erarbeitet worden war, hätten höchstens 30 Menschen mitgearbeitet, meint der Generaldirektor.

Aufwendig wird es vor allem außerhalb der Kommissionsgebäude: Insgesamt, meint der CDU-Europaabgeordnete Joachim Würmeling, der im Binnenmarktausschuss oft mit Schaub zusammenarbeitet, sind an einer Richtlinie jeweils mindestens 10.000 Menschen beteiligt. Von den Kommissionsbeamten, Vertretern des Ministerrats und Parlamentsabgeordneten über Interessenvertreter aus Nichtregierungsorganisationen und Verbänden, den so genannten Lobbyisten, bis hin zu den nationalen Regierungen. Manchmal, vor allem im Wettbewerbsrecht, werden sogar die weltweiten Handelspartner, also etwa Amerika, China oder Australien, zu dem Vorhaben befragt.

Die Kommission muss schließlich nicht nur versuchen, ein möglichst gutes Gesetz vorzuschlagen, sondern sie braucht die Unterstützung der anderen Institutionen. Bei 65 Prozent aller Entscheidungen hat das Parlament ein Mitbestimmungsrecht. Und die Mitgliedstaaten müssen den Richtlinien in den Ministerräten sowieso zustimmen. Sonst verschwindet der Kommissionsvorschlag schnell im Papierkorb.

30 Jahre für ein Gesetz?

Es wundert also nicht, dass vom Vorschlag der Kommission bis zur Verabschiedung einer Richtlinie durch den Ministerrat oft viele Jahre vergehen. Das Verfahren bei der Richtlinie zur „Kraft-Wärme-Kopplung“ dauerte zum Beispiel von Juli 2002 bis Januar 2004. Aber bereits seit 1997 hatte sich die Kommission mit dem Thema beschäftigt.

Besonders extrem war die Bearbeitungszeit bei der Richtlinie über die neue Rechtsform der „Europäischen Aktionsgesellschaft“. Die Diskussion zog sich über 30 Jahre hin, bis der Rat 2001 endlich einen Beschluss fasste. Im vergangenen Jahr trat der Text dann endlich in Kraft. „Aber die Zeit müssen wir uns auch nehmen, um einen guten Text zu erarbeiten. Sonst entsteht der Eindruck, eine Richtlinie würde von kranken Gehirnen der Kommissionsbeamten erarbeitet“, sagt CSU-Mann Würmeling. Im Jahr 2002 wurden immerhin 1.474 Richtlinien allein im Bereich Binnenmarkt auf den Weg gebracht.

Trotz dieser Verbürokratisierung und den langen Wartezeiten, bis eine Richtlinie tatsächlich beschlossen ist und in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden kann, hat der Job für Alexander Schaub nichts von seiner Faszination verloren: „Wir sind keine grauen Beamtenmäuse, die morgens ihre Armschoner anlegen. Das ist eine kreative Arbeit, und es ist eine enorme Genugtuung, wenn sie zwei Jahre lang an einem Reformprojekt basteln, es allen Widerständen zum Trotz verteidigen und es schließlich den Durchbruch gibt und es dann heißt: ‚Das ist ein eindrucksvolles Reformwerk.‘ Wir arbeiten hier an der Baustelle des neuen Jahrtausends.“