: Teresa hat mich reingelegt
Ich glaube an Charity. Ich glaube an die Effizienz großer Hilfsorganisationen. Ich gehe nach Kalkutta und arbeite in einem Sterbehaus. Eine Desillusionierungsgeschichte
VON ELSE BUSCHHEUER
Kalkutta ist hässlich. Jeder sagt das. Kalkutta ist die Stadt der schrecklichen Nächte (Kipling), ein Ort, den man vergessen soll und aus den Reiseführern streichen (Grass), ein Moloch aus sterbenden Bettlern und Nonnen, die die Sterbenden huckepack schleppen (sinngemäß Mutter Teresa). Deswegen will ich nach Kalkutta: um zu helfen.
Die verschrumpelte Nonne, die herkam, um den „Ärmsten der Armen“ zu dienen, hat es mir angetan. Genau wie Stephan Kowalski, ein polnischer Priester, der in Dominique Lapierres Roman „City of Joy“ in einem Slum in Kalkutta freiwillig das Los der Armen teilt.
Ich glaube an Charity. Ich glaube an die Effizienz großer Hilfsorganisationen. Nun will ich es machen wie Nike: „Just do it!“ Ich gebe meine Wohnung in Manhattan auf, miete meine Habe in ein Storage ein und fliege auf eigene Kosten um die halbe Welt. Ich steige in einem der Billighotels in der Sudder Street ab, stelle den Wecker auf fünf und lege den Kopf erwartungsvoll auf ein stockiges Kissen.
Am anderen Morgen um halb sechs nachtwandle ich den Haji Mohammad Moshin Square hinunter, besoffen von Fisch, Abgasen, Sandelholz, gepresstem Zuckerrohr, Chai, am Straßenrand gekochtem Dhal, käsigen Ledersandalen, von mit Fliegen übersäten Tierleichen und gut vermischtem, nachtwarmem Müll, Richtung Mutterhaus. Auf dem Fußweg kann man nicht laufen. Ausspucken, urinieren, Zähne putzen, kochen, wohnen, essen, schlafen – alles wird dort erledigt. Auf der Straße kann man auch nicht laufen. Rikschas, Fahrräder, Taxis, Kulis nähern sich krakeelend aus allen Richtungen. Ich taumle durch Gruppen von Spaniern, Koreanern und Japanern mit harter Währung in verschwitzten Brustbeuteln und guten Absichten im Herzen. Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.
Raschelnd zieht das Heer der Nonnen ein in die Morgenmesse, mit gestärkten blütenweißen Saris und gesenkten Köpfen. Nonne sein! Armut geloben! Entbehrungen tragen! Konvertieren! Missionieren! Egal wen, egal von wo nach wo, solche Gelüste kommen da auf. Von Nonne Karina aus Mexiko, die ein blechernes Marienmedaillon küsst und mir feierlich überreicht, lasse ich mich einteilen für Nirmal Hriday, das Sterbehaus am Kalighat, Mutter Teresas „erste Liebe“.
Beim Springreiten im Linienbus, der von außen an einen Rattenversuch erinnert und mich drinnen mit dem zum Ganzkörperkontakt neigenden männlichen Inder vertraut macht, federn mich meine guten Absichten ab. Wie ich es nicht abwarten kann, den Ärmsten der Armen zu dienen, so wie Mutter Teresa, so wie Stephan Kowalski!
Ich betrete Nirmal Hriday, das „Home for the dying destitute“ am Kalighat, in einem verlassenen Flügel des großen Kalitempels, in dem täglich mehrere Ziegen geköpft werden und in dem, wie mir Agara, eine deutsche Osho-Anhängerin, zuwispert, „voll die Shakti-Energie“ ist. Tatsächlich birgt die Gegend religiösen Zündstoff. (Mutter) Teresa hat damals (Mutter) Kali, der Göttin der Liebe und des Todes, ein Stück Revier abgetrotzt. Neben dem Wallfahrtsort für orthodoxe Hindus etablierte sich ein Wallfahrtsort für orthodoxe Gutmenschen. Als Erstes fällt mein Blick auf ein Foto, auf dem die greise Teresa und der greise Papst Händchen halten: Adam und Eva ohne Sündenfall.
Meine neue Arbeitsstelle sieht ganz so aus, wie ich mir das vorgestellt habe: gichtige, hohläugige Menschen auf Pritschen, geschorene Köpfe auf krankenhausgrünen Kissen, glitschige Steinbecken, nach Desinfektionsmittel und Exkrementen stinkende Abflussrinnen.
Die Dienst habende Nonne, Pei Lin aus Singapur, ist ein kleiner Feldwebel: raue Schale, guter Kern. Es geht eng zu. In der Hochsaison kämpfen sich die Nonnen durch bis zu zweihundert Praktikanten, bei nur neunzig Patienten. In der Regenzeit wird die von Hand ausgewrungene Wäsche schon mal über den Köpfen der Patientinnen aufgehängt. Im Moment sind wir zirka sechzig Praktikanten, manche, vor allem Japaner, kommen nur für einen Tag, manche bleiben Wochen oder Monate, ganz wenige sind seit Jahren hier, kein einziger Inder darunter.
Ich bin für die Morgenschicht bei den Frauen eingeteilt, sechsmal die Woche von 8 bis 12 Uhr. Sie beginnt mit einem gemeinsamen Minigottesdienst (Herunterleiern von englischsprachigen Erweckungsliedern und -gebeten). Dann folgt das Austeilen des Frühstücks (Toast, Banane, hartes Ei, Klops aus süßem Reismehl) und das Füttern einzelner Patienten. Anschließend wäscht man, auf dem Boden vor Schüsseln mit kaltem Wasser hockend, das Blechgeschirr ab. Dann werden die Patientinnen in den Waschraum geschleppt. Wer das nicht übers Herz bringt, kann mit Händen und Füßen im Nebenraum die Wäsche waschen. Zwischen 10 und 11 werden die Medikamente ausgegeben (ein von kichernden Novizinnen absolviertes Ratespiel: Ist zum Beispiel Paracetamol alle, gibt es halt was anderes mit P), die Patientinnen werden massiert (sofern der Praktikant in eigenes Öl investiert hat) und auf den Topf gesetzt. Nachher wird Mittagessen ausgeteilt (Reis mit irgendwas) und das Blechgeschirr abgewaschen. Wir tragen Schürzen von zweifelhafter Sauberkeit, Gummihandschuhe (nur ein Paar pro Schicht, wie uns ein Pappschild belehrt), Vorsichtige auch Mundschutz (wenn vorhanden).
Andi aus Bayern, der seit fünfzehn Jahren hier arbeitet und demnächst dafür eine Auszeichnung vom Papst bekommt, hat mir auf meiner ersten Indienreise mit leuchtenden Augen von Mutter Teresa erzählt. Wie sie mit bloßen Händen Wäsche wusch, Maden aus Wunden zog, Sterbende herschleppte. Und jetzt bin ich hier! Ich helfe! Ich tue was! Tief befriedigt verlasse ich mittags das Haus. Obwohl ich Bilder wie diese nur aus dem Fernsehen kenne, obwohl ich nie zuvor eine nackte Oma durch die Gegend geschleppt, nie von riesigen Fleischwunden weggefressene Waden und Kopfschwarten, im Feuer geschmolzene Häute gesehen habe, kann ich es ertragen. Ich bin eine geschickte Zureicherin beim Verbandswechsel. Ich habe Talent zum Füttern und Waschen. Ich ekle mich nicht vor Wundmaden, Nekrosen, dampfendem Durchfall. Ich packe mit an. Es ist wie ein Rausch.
Nachmittags der erste Dämpfer. In der Zeitung ein Foto von Dominique Lapierre, dem Schriftsteller, der so herzerweichend über ekelhafte Slums, grindige Leprakranke und aufopfernde Priester schrieb. Lapierre mit Panamahut und Bügelfaltenhose. Wie ein Antiquitätenhändler sieht er aus, wie ein Weinbergbesitzer, der den ganzen Tag französischen Weichkäse mampft. Dieses feiste, selbstgefällige Krötengesicht! Der Typ hat mich reingelegt, denke ich.
Tags drauf trabe ich wieder zur Messe. Ein dicker katholischer Inder tötet mich mit Blicken, als ich nicht schnell genug auf den Knien bin. Der ebenfalls katholische Wäsche-Wallah wird sich später weigern, meine „I love Jesus“-Socken zu waschen („You cannot wear the Good Lord on your feet, Madam!“).
Dann wieder Kalighat: Eine der Frauen sitzt tremolierend auf einem Plastikstuhl, ein Spuckefaden läuft aus ihrem Mund bis zum Boden. Warum macht keiner was?, denke ich. Warum hab ich nix Anständiges gelernt, Krankenschwester, Altenpflege, Medizin? Bin ich Praktikantin, oder bin ich Darstellerin einer Praktikantin? Warum werden den Hindufrauen die langen Haare abrasiert, die doch ihr Schmuck und Stolz sind? Warum zieht man ihnen Engelshemdchen an, sodass die sonst stets Bedeckten halb nackt, hilflos den Blicken von Praktikanten und Besuchern ausgesetzt sind? Warum werden keine Waschmaschinen gekauft? Warum gibt es keine Mundhygiene? Auf alle Fragen höre ich Antworten, die mich vorübergehend beruhigen. Die Haare werden angeblich abrasiert, weil sie verdreckt sind und verlaust, weil die Kopfhaut oft von Krätze befallen ist, offene Wunden hat, nässt und eitert. Unterwäsche oder Zahnbürsten seien die Patientinnen nicht gewohnt. Waschmaschinen wollte Mutter Teresa nie. Immerhin hätten die Frauen ein Bett, etwas zu essen, Zuwendung.
Es scheint drei Hauptmotive für den freiwilligen Einsatz zu geben: Flucht, Abenteuerlust, Seelenrettung. Die meisten Praktikanten sind Christen. Aber steht Christentum (Nächstenliebe praktizieren, um in den Himmel zu kommen) nicht im Gegensatz zu Altruismus (Aufopferung Einzelner, um den Fortbestand anderer zu sichern, etwa bei Ameisen oder Schimpansen)? Schon am nächsten Tag fängt die Morgenmesse an, mich zu ärgern. Dieses geheimbündlerische Aufstehen, Hinsetzen, Hinknien, Hinsetzen, Aufstehen. Der Gastpriester, ein Amerikaner, sagt in seiner Predigt ungefähr dreißigmal „United States of America“. Nachher legt er allen einen Keks auf die Zunge – nur mir nicht.
Noch sehen Frauen auf den Pritschen im Sterbehaus am Kalighat gleich aus: dunkelhäutig, kahl geschoren, runtergekommen, kehlige Laute ausstoßend, die nicht immer freundlich klingen. Sie rufen uns „Auntie“ (Tantchen), wir nennen sie „Didi“ (ältere Schwester). Das war’s dann aber auch mit der Konversation. Diese unüberwindbare Sprachbarriere! Diese Kargheit der Mittel! Dieses nur flüchtig organisierte Chaos!
Ich schnappe erste Bengali-Phrasen auf (Ami tomake bhalobashi – ich liebe dich! Tschup kara – Schnauze!). Ich erfrage Namen und Lebensgeschichten. Das ist es doch, was ich wollte: den Abstand überwinden, die Hand ausstrecken, der abstrakten Masse „Ärmste der Armen“ ein Gesicht geben, einen Namen, eine Geschichte.
Aktari, Bett 52. Dünn und schlapp, mit Igelschnitt. Sie hockt neben ihrer Pritsche, lächelt nie, schaut nur mit großen Augen. Manchmal legt sie ihre dünnen Arme um meinen Hals und flüstert mir mit heißen Lippen eine bengalische Tirade ins Ohr. Nachts zettelt sie Schlägereien mit anderen, ebenfalls halb gelähmten Patientinnen an. Morgens hat sie Kratzer, Hämatome, einmal eine Platzwunde an der Stirn. Da wird Aktari in einen Salwar-Suit und Badelatschen gesteckt. Ihre Füße, die Schritt um Schritt weit nach vorne patschen, während ich ihr gesamtes Körpergewicht stütze, kennen keine Schuhe. Die Badelatschen fallen immer wieder ab. Aktari wird von einem Praktikanten abgeholt. Sie kommt in ein anderes Haus der „Missionaries of Charity“, nach Dumdum im Norden Kalkuttas.
Oder Kunti, die Patientin aus Bett 51. Schön soll sie gewesen sein, als sie herkam. Dann vertrocknete sie bei lebendigem Leib. Tuberkulose im Endstadium, ein grimassierender Schädel auf grünem Kissen. Blutiger Auswurf. Schmerzen. Offener knochiger Rücken, rhabarberstangendünne Arme und Beine. Andrea, Praktikantin aus Ohio, die ihre Knochenhände hielt, sagt, Kunti habe geweint, als sie starb.
Ihr Bett wird von „Baby“ bezogen, ein Kind noch, ohne Schamhaare, schrecklich mager. Baby hat Leberkrebs und große Schmerzen. Einmal wirft sie mir wie in Zeitlupe eine Kusshand zu. Einmal ist sie untröstlich. Ich bitte eine Novizin um Übersetzung. Baby vermisst ihren Hund. Als ich am nächsten Tag Babys Bett leer finde, weiß keiner, wo sie ist. Neue Praktikanten, neue Novizinnen (sie durchlaufen turnusmäßig alle Häuser). Schließlich finde ich eine indische Hilfsarbeiterin, die behauptet, Baby sei nach Hause entlassen worden. Nach Hause? Soviel ich weiß, werden „family cases“ gar nicht hier aufgenommen. Der Zweifel nagt an mir. Babys Bett wird sofort neu belegt.
Nilima, eine rundliche, vierzigjährige Frau, besteht darauf, mein blechernes Marienmedaillon zu küssen und sich zu bekreuzigen, ehe ich sie massiere. Tut sie katholisch? Denkt sie, ich sei katholisch? Ist sie hier bekehrt worden? Nilima hatte einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt. Viermal schon haben die Nonnen versucht, sie zurückzubringen zu ihrem Mann. Aber der hat bereits eine neue Frau.
Ursula umarmt Praktikanten gern. Wir haben die Anweisung, Mundschutz zu tragen und uns nicht küssen zu lassen, da sich eben erst eine Praktikantin mit Tuberkulose angesteckt hat. Ursula, die etwa 70 ist, hat ihre dicke, schwarze Plastikbrille, von der beide Bügel abgebrochen sind, mit einem Strick um den Kopf gebunden. Der Strick rutscht immer in ihre Augen, die Brille sitzt schief. Klagend hält sie jedem ihr geschwollenes blaues Knie entgegen. Sohn und Mann haben sie gemeinschaftlich mit dem Stock verprügelt. Sehnlichst wünscht sich Ursula zu ihren Peinigern zurück.
Kajul, eine finstere, gebrechliche Frau, kann eine einzige Praktikantin ganztags beschäftigen. Sie ruft ständig, klagt, hat Wünsche. Mal soll der Ventilator aus. Mal will sie auf den Topf, dann hat sie Durst, dann ist die Windel voll. Neben ihrer Pritsche ist ein Spucknapf mit weißgelblichem Schleim. Erst nach Wochen erfahren wir eher beiläufig – die australische Krankenschwester, die Kajul täglich Injektionen gibt, inbegriffen – dass Kajul HIV-positiv ist.
Sumita, die Tamilin, die niemand versteht, hat ihr halblanges, dickes, schwarzes Pferdehaar behalten, weil sie tobte und sich wehrte, als man es ihr abrasieren wollte. Sie ist von übel riechenden Brandwunden bedeckt, ihr Unterkiefer ist wie eingeschmolzen und zu einer monströsen Unterlippe geworden, Hals und Schulter sind rohes Fleisch. Dieser „Küchenunfall“ zeugt vom immer noch populären Versuch, die zur Last gewordene Ehefrau loszuwerden: Sie wird kurzerhand gefesselt und angezündet.
Fünf Entlassungen erlebe ich in den nächsten Wochen. Aber wohin humpeln und kriechen und rutschen die Frauen mit ihren kahl geschorenen Köpfen, halb gelähmt, ohne Familie, ohne Zuhause, ohne Ausbildung, ohne einen Pfennig Geld? „Wir brauchen die Betten“, sagt die stets lächelnde Chefnonne Georgina. „Wenn sie dann wieder krank auf der Straße gefunden werden, kommen sie zurück.“ Ein Teufelskreis, kein Entkommen möglich, ganz im Sinne des Erfinders. Was würde aus den Nonnen, wenn es keine Ärmsten der Armen mehr gäbe? Ist Wohltätigkeit nicht kurzsichtig in einer Kulisse, die darauf angelegt ist, dass der Bettler hübsch der Bittende bleibt? Teresa hat mich auch reingelegt, denke ich.
Ich habe es aufgegeben, Neuerungsvorschläge zu machen, etwa für Namensschilder statt Nummern über dem Bett oder eine Patientenkartei mit Fotos, sodass es nicht mehr wie bislang zu fatalen Verwechslungen kommt. Diese Idee hätten schon viele gehabt, ist die lapidare Antwort. Macht sie das schon wertlos? Es gibt keine Änderungen, fertig. Der Praktikant fügt sich, oder er geht. Wann immer ich meine Skrupel mit anderen teilen will, verstummen sie. Immer öfter dreht sich mir der Magen um, zum Beispiel wenn Gummihandschuhe „recycelt“ werden. Ich kaufe eine eigene Schürze, die ich täglich im Hotel wasche und trockne. Ich kaufe abgepackte Gummihandschuhe. Kaufe ein Taschenmesser und mache es mir zur Gewohnheit, Handschuhe und Mundschutz nach Benutzung zu zerschneiden. Ich kaufe Öl, mit dem ich die Patientinnen massiere. Ich wasche und desinfiziere meine Hände ständig. Mehr geht nicht. Oft sind nicht genug Handtücher, Laken, Decken, Windeln da. Waschlappen gibt’s nur vier für über vierzig Frauen. Man darf nicht zimperlich sein im Kalighat.
„Teresa, wo sind deine Millionen?“, fragte einst der Stern. Ich frag mich das langsam auch, zumal täglich dicke Amis dicke Spendenschecks abgeben. Wo fließen die Spenden hin? Ich fühle abwechselnd Wut und Ohnmacht, werde schließlich körperlich krank. „Na ja, Kalighat ist ja auch Hardcore“, sagt ein Praktikant.
Vielleicht sollte ich woandershin? Die Stadt ist immerhin voll von Teresa-Häusern. Ich besuche die Leprakolonie im Stadtteil Titagarh. In Bruder Prem Anand, dem Chef dort, lerne ich einen Mönch kennen, der sich nicht nur Tag und Nacht für die Heilung der ihm anvertrauten Kranken einsetzt, sondern ihnen auch eine Wohnung gibt und eine Arbeit, und mit der Wohnung und der Arbeit Würde. Prem Anand, ein Bauernsohn aus Kerala, der mir stolz erzählt, dass er zu den Wenigen gehörte, die Mutter Teresas Leiche in den Sarg betten durften, trifft nichtsdestotrotz mutige Einzelentscheidungen. Erst kürzlich hat er einer beinamputierten kreislaufschwachen Leprakranken kurz nach der Niederkunft zu einer Sterilisation verholfen. Auf Praktikantenrummel verzichtet der kluge Mann. „Wir kommen allein zurecht.“
Mit jedem absolvierten Dienst im Sterbehaus am Kalighat wächst mein Bedürfnis nach Luxus: shoppen, gut wohnen, gut essen, fernsehen. Als es in meinem billigen Hotelzimmer an zehn Stellen durchregnet, zuletzt auch ins Bett, als alles klamm ist, die Wäsche, die Bücher, das Klopapier, ziehe ich um in ein teures Hotel mit Panoramablick über den neuen Markt. Dem Sterben zusehen und dann zurück ins vollklimatisierte Hotel, heiß duschen, ein Glas Rotwein und „Bram Stoker’s Dracula“ in der Glotze – das ist zynisch. Gehen wir in die Dritte Welt, um uns mal so richtig reich fühlen zu können?
„Erschrick nicht, heute ist Putztag!“, sagt Andrea, die Praktikantin aus Ohio. Geputzt werden die plastikbezogenen Matratzen – aber wohin so lange mit den Patientinnen? Wie Würmer kringeln sich die Frauen auf dem Steinfußboden, vierzig von ihnen oder mehr, vertiert, halb nackt, sich beschmutzend, mit geschorenen Köpfen. „Es ist egal, was wir tun, solange wir es mit Liebe tun“, hat Mutter Teresa gesagt. Doch von Liebe kann hier keine Rede sein. Wenn ich meinen Fotoapparat dabeihätte (fotografieren ist nur mit Sondergenehmigung erlaubt), würde ich diesen Anblick festhalten, um das Foto amnesty international zu schicken, und ich würde jeden niederschlagen, der mich daran hindert. Aus dem Leiberhaufen erhebt sich ein Arm. Es ist Nilima, die mein blechernes Marienmedaillon küssen will. Sie ruft mich: „Auntie! Auntie!“ Ich fange an zu heulen.
„Meistens komme ich nicht, wenn Putztag ist“, wird mir später eine Praktikantin anvertrauen. Kopf in den Sand. Schnauze halten. Augen zu und durch. Wer will schon den Glorienschein einer Heiligen zerstören?
Ich zerre Dmitri, den sibirischen Praktikanten, der hier seit vier Monaten arbeitet, zum Frauenschlafsaal. Er sieht mich verständnislos an. Ich brülle: „Es sind Menschen! Sie haben ein Recht auf Würde!“ Dmitri hat keinen Schimmer, wovon ich rede. Seit Urzeiten wird das so gemacht am Putztag. Er schuftet in der Doppelschicht, mehr als acht Stunden täglich, wie ein Pferd. Bilder wie diese sind für ihn Normalität – und ich bin hysterisch. „Es gibt keine andere Möglichkeit, die Matratzen zu schrubben“, erklärt Nonne Pei Lin, die eilends herbeigerufen worden ist. Im Zorn verlasse ich den Kuschelzoo des Grauens.
Ich lese zwei kritische Teresa-Bücher, eines von Sally Warner, einer australischen Krankenschwester, die mehrere Praktika in den Missionaries of Charity absolvierte („Mother Teresa – the Genius of Calcutta“), eines von Dr. Aroup Chatterjee, einem in Kalkutta geborenen und aufgewachsenen Mediziner, der inzwischen in London lebt („The Final Verdict“). Beide haben sich mit ihren Publikationen keine Freunde gemacht. Warner prangert die Ernährung und Betreuung sowie die fehlende Beschäftigung vor allem in Teresas Kinderheimen an, Chatterjee weist mit flammendem Zorn nach, wie groß die Diskrepanz ist zwischen Mutter Teresas Ansehen in der Welt und dem, was sie wirklich für seine Stadt getan hat.
Ich treffe Sally Warner, von der in Praktikantenkreisen gemunkelt wird, sie sei psychisch gestört und habe mehrfach versucht, aus einem von Mutter Teresas Heimen ein Kind zu stehlen, und erlebe die 47-jährige Frau durchaus bei geistiger Gesundheit, überzeugend, desillusioniert, mit ungetrübtem Urteilsvermögen. Ich treffe Chatterjee, der eine regelrechte Teresa-Obsession zu haben scheint. Er macht sich lustig über weiße Praktikanten, die herkommen im Rausch der eigenen Großherzigkeit und dafür Dankbarkeit von den Indern erwarten. Der Mann hat Recht. Bei Licht besehen sind meine guten Absichten nichts als pathetisch.
Ich erkunde Kalkutta, einst „Stadt der Paläste“ und „Paris des Ostens“. Kalkutta, diese chaotische, leicht anarchistische Stadt mit der „marxistischen“ Regierung, deren Symbol, Hammer und Sichel, mich an den DDR-Terminus „Freundschaft mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Bruderstaaten“ erinnert. Ich durchstreife Kalkuttas Flora: den Botanischen Garten mit dem 200-jährigen Banyanbaum, den Horticultural Garden mit seinem nur von Urwaldgeräuschen gestörten Frieden, den Millenniumpark, in dem abends Liebespaare Händchen halten, den nachtblauen Maidan, in dem gerade Sri Sri Ravi Shankar ein Konzert gibt und geschmückte Inder aus tausend Kehlen mitsingen. Ich überquere den Hougli-Fluss, einmal zu Fuß, über die Brücke, zurück mit der Fähre. Ich erkunde den Kalitempel neben meinem ehemaligen Arbeitsplatz, starre in das schwarze, dreiäugige, züngelnde Kaligesicht (wer zuerst wegguckt) und spüre sie, die Shakti. Ich fahre nach Belur zum Vivekananda-Tempel, nach Dakshineshwar zum Kalitempel Ramakrishnas.
Ich erlebe eine lebendige, unmittelbare Stadt, mit Chaos, Staub und Stau. Ich spreche auf der Straße Bengalen an, die Chatterjees und Banerjees und Mukerjees, die Senguptas und Dasguptas und Guptas, die Rays und Roys von Kalkutta. Sie sind kontaktfreudige, direkte, schlagfertige Menschen, die sich zuweilen als Zyniker, Kommunisten, Atheisten bezeichnen. Die gebildeten, vor allem die junge Generation, sprechen hervorragend Englisch und sind politisch wie kulturell auf der Höhe. Sie haben ein leidenschaftliches Verhältnis zu Durga und Kali, deren Ikonengesichter das Stadtbild beherrschen. Sie sind unbändig stolz auf Rabindranath Tagore, Satyajit Ray, auf Hemant Kumar, Aurobindo, Ramakrishna und Vivekananda. Wir diskutieren Hautfarben, Kasten, Politik, Sexualität. Ich frage, höre zu, bin beschämt. Sie sind sauer auf uns Westler mit unserem Hang zu Slums, Leprakranken, Mutter Teresa und der wirklichkeitsfernen Billigtouristenkulisse der Sudder Street. Es gab Proteststürme, als Hollywood an Originalschauplätzen „City of Joy“ verfilmte, mit Patrick Swayze in der Hauptrolle. Ich mache einen Bogen um die Praktikanten aus der Sudder Street. Ich nehme mein blechernes Marienmedaillon ab. Ich schmeiße „City of Joy“ weg. Ich lasse mich von meinen neuen bengalischen Freunden ausführen oder mit nach Hause nehmen, wo sie mir Mit-den-Fingern-Fisch-Essen zeigen, mir bengalische Süßigkeiten zum Kosten geben, mich in einen Sari wickeln.
Inzwischen weiß ich, wie viele andere Hilfsorganisationen es in Kalkutta gibt. Ich besuche die „All Bengal Women’s Union“, die seit den 30er Jahren jungen gestrandeten Frauen eine Wohnung, eine Ausbildung, eine Arbeit gibt. Ich mache eine Kliniktour mit Calcutta Rescue, einer von einem Ex-Teresa- Praktikanten geleiteten englischen Organisation, die nur Langzeitpraktikanten beschäftigt, die Slumschulen unterhält und Krankenhäuser und wo Spenden kurze, durchsichtige Wege nehmen. Hier werden die Patienten aufgeklärt über Ernährung, Hygiene, Verhütung. Nur wer am Unterricht teilnimmt, erhält einen Token. Nur wer einen Token hat, bekommt Lebensmittel.
Im Santiniketan-Express treffe ich Babli Sen, eine Mittelstandsfrau aus Kalkutta. Ein Sänger, der sich auf dem Harmonium begleitet, trägt Tagore-Lieder vor. Babli singt mit geschlossenen Augen mit, als Bengalin weiß sie jedes Wort. Nachher gibt sie dem Sänger tausend Rupien, gut zwanzig Euro. Ich frage sie, warum so viel. „Ich kenne Tamar Das seit dreißig Jahren“, sagt sie. „Solange ich mit diesem Zug zwischen Santiniketan und Kalkutta hin- und herfahre. Er ist nicht mehr der Gesündeste, und sein Heimatdorf ist gestern vom Monsunregen überflutet worden.“ Konkrete Hilfe, die auf der Kenntnis der Situation beruht, das ist Bablis Weg, Mitgefühl zu zeigen.
Ist das die Lösung? Verantwortung übernehmen für einzelne Lebensläufe? Sanftes pädagogisches Einwirken ohne Missionierung? Die Vorbildwirkung Einzelner? Funktioniert Hilfe nur, wenn man die lahmarschigen undurchsichtigen Apparaturen der großen Hilfsorganisationen umgeht? Ich glaube nicht mehr an Charity. Ich habe einen regelrechten Ekel entwickelt, Barmherzigkeit betreffend. „Wenn wir einem Bettler die Reisschüssel füllen“, sagt Swami Shuddhananda, Gründer der Lokenath Divine Mission, „steht er fünfzig Jahre später wieder da, mit fünfzig Kindern.“ die Extreme fallen in eins: Altruismus ist der größte Egoismus.
Am letzten Tag, als ich zum Victoria Memorial Museum fahre, regnet es. Im Park des Geländes sehe ich tausende von nassen, runden Steinen, in allen Farben, in allen Formen. Ich laufe barfuß über die Steine. Ich hocke unter meinem Regenschirm, hebe Steine auf, lege sie wieder hin. Ich habe das erste Naturerlebnis meines Lebens. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes stoned. Erst jetzt, nach zwei Monaten, bin ich angekommen. Kalkutta ist gar nicht hässlich. Und ich bin nicht hier, um zu helfen. Ich bin hier, um zu lernen.
ELSE BUSCHHEUER, 39, wurde durch ihre Bücher „Ruf! Mich! An!“ oder „ www.else-buschheuer.de “ bekannt. Die Kalkutta-Berichte sind Teil des dritten Bandes von ihrem „New York Tagebuch“ (Selbstverlag, 306 Seiten, 16,50 Euro). Am Montag erscheint im Diana Verlag Else Buschheuers Roman „Venus“