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Archiv-Artikel

theorie und technik Hybridität ist das Wort der Stunde in der Kulturtheorie – inzwischen gilt es auch für Selbstmordattentäter

Selbst islamistische Märtyrer schließen typisch deutsche Lebensversicherungen ab: Es gibt keine kulturelle Reinheit

Der Mangel an Abenteuergeist, die bürgerliche Verzärteltheit, die Scheu vor Risiko, diese Verachtung der Wildheit – bei gleichzeitiger romantischer Verklärung des Wilden – ist es, was seit hundert Jahren rechte und linke Kritiker an der Kultur des Westens besonders abstößt. Chiffre aller Degeneration ist seit je das Versicherungswesen. Ernst Jünger verhöhnte schon vor 80 Jahren den „umfassenden Aufbau eines Versicherungssystems, durch das das Risiko des privaten Lebens gleichmäßig verteilt werden soll – in Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzulösen sucht“. Und vor zehn Jahren sorgte Frank Castorf für einen kleinen Aufruhr im Feuilleton, als er über eine Welt spöttelte, in der es „wichtig ist, die Rentenversicherung mit 18 abzuschließen“. Bei der Gelegenheit wünschte er sich „ein neues Stahlgewitter“ herbei oder dass „die Hunnen kommen“.

Nun sind die Hunnen auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Die haben längst das moderne westliche Assekuranzwesen für sich entdeckt. Symptomatisch die Berichte über die jüngste Verhaftung zweier Al-Qaida-Verdächtiger. Einer der beiden, ein Palästinenser, war zu lesen, habe in Deutschland eine Lebensversicherung abgeschlossen und geplant, in Kairo einen tödlichen Verkehrsunfall vorzutäuschen, in Wirklichkeit aber einen Selbstmordanschlag ausführen wollen. Der Gewinn sollte den Terrorgruppen zufließen. Dieses misslungene Täuschungsmanöver kommt der Chuzpe des Häuslebauers ziemlich nahe, der sich finanziell übernommen hat und sich im Keller vorsätzlich das Bein abhackt, um die Invaliditätsrente zu kassieren. Allahs Märtyrer beweist eine ganz ähnliche „Mitnahmementalität“, wie das die Neoliberalen nennen. Wie sehr der militante Mohammed-Fan von westlicher Kultur durchdrungen ist, zeigte auch das scheußliche Video, das die Entführer der Reporterin Giuliana Sgrena veröffentlichten. Während im Vordergrund die gepeinigte Geisel um Rettung flehen musste, prangte im Hintergrund ein Banner mit der Aufschrift „Mudschaheddin ohne Grenzen“ – offensichtlich abgeschaut von den Brandingmethoden humanitärer Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ und „Reporter ohne Grenzen“.

Das sind nun zwei abstoßende Exempel für das, was die avancierte Kulturtheorie heutzutage eigentlich mit recht optimistischem Beiklang „Hybridität“ nennt. Nicht Fremde begegnen sich, wenn Kulturen aufeinander treffen, in uns steckt der Andere schon drin und wir in ihm. Ohnehin wissen wir immer um die kulturellen Erwartungen, die er in uns setzt – und vice versa. Selbst wenn wir dem „Wilden“ begegnen, dann eher unseren Sehnsüchten (bzw. unseren Albträumen) als einer realen, fundamentalen Andersheit. Die Begegnung ist, sogar wenn es todernst wird, immer ein (unbewusstes) ironisches Spiel: Auch wenn wir uns noch so bemühen, mit den Augen des Anderen zu sehen, erblicken wir bisweilen nur, was wir schon im Auge haben. Man erinnere sich an das berühmte Exempel jenes neuseeländischen Ureinwohnerstammes, der einen grotesken Kriegstanz erfand, um einen westlichen Ethnologen in seinem Forscherdrang zu erfreuen. Das setzt voraus, dass man schon im abgelegensten Busch ein Verständnis, ein Bewusstsein darüber besitzt, womit denn dem Besucher aus der Ferne eine Freude zu machen ist. Der Andere ist eine Sample an Identitäten wie unsereins auch. Diese Hybridität der Kulturen ist natürlich umso schlagender, je näher sie sich sind.

Mit dem Konzept der „Hybridität“ wird, womöglich nicht einmal ganz bewusst, endgültig der Abschied vom Antikolonialismus genommen. Die antikolonialistische Theorie, selbst von Beginn an eine chemische Reaktion von Ingredienzen aus der Dritten Welt wie des Westens, unterstellte gewiss nie eine authentische „Reinheit“ der antikolonialistischen Rebellion, aber doch die Möglichkeit der „Reinigung“ in der Rebellion – am berühmtesten in der Formel „das kolonisierte Ding wird Mensch“ von Frantz Fanon. Für ihn hat sich die koloniale Herrschaft – vulgo: der Westen – in das kolonisierte Subjekt hineingefressen und brach dann, im schlimmsten Fall, als Neurose aus (Fanon war Psychiater).

Hybridität akzeptiert nun heiter die Patchworkidentitäten. War vor 40 Jahren Negritude das Schlüsselwort, ist Kreolisierung die zeitgenössische Phrase. Das Subjekt ist, von Vorderasien bis Chiapas, ein Puzzle: Maya und Moderne. Das klingt fröhlich: Nach dem Verbindenden der Kulturen, dem freien Spiel der gebrochenen Identitäten. Aber natürlich beschreibt Hybridität nicht nur so sympathische Crossover-Charaktere wie schwule chinesische HipHopper und Violine spielende Tupis, sondern eben auch Islamisten-NGOs, deren Märtyrer mit dem Satz auf den Lippen aus dem Leben scheiden: hoffentlich Allianz-versichert.

ROBERT MISIK

Robert Misik und Isolde Charim schreiben abwechselnd eine Theoriekolumne – jeden ersten Dienstag im Monat