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Archiv-Artikel

Fantasievolle Überraschungen

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (1): Wer wie Wolfgang Kraushaar ein Gewaltopfer wie Rudi Dutschke vorzugsweise als potenziellen Terroristen behandelt, ist als Historiker der 68er-Bewegung nicht ernst zu nehmen

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbstverständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON KLAUS MESCHKAT

Wie weit darf ein wissenschaftliches Institut gehen, um seine Veröffentlichungen publikumswirksam anzupreisen? Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat mit einer Verlagsanzeige seines Buchs „Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF“ ganz neue Maßstäbe gesetzt. Die Anzeige beschränkt sich nämlich nicht darauf, den Inhalt einer neuen Publikation verkaufsfördernd bekannt zu geben: es werden vielmehr zugespitzte Behauptungen aufgestellt, die das angekündigte Werk selbst noch gar nicht enthält. Das auffällig fehlende Komma im Buchtitel verrät allerdings möglicherweise schon eine klare Absicht: Rudi Dutschke soll so nahe wie möglich an Andreas Baader herangerückt werden.

Ganz klar wird das durch den direkten Vergleich zweier Menschen, die sonst kaum in einem Atemzug genannt werden: „… beide besaßen eine obsessive Affinität zur Gewalt“. Und dass Dutschke als Erster hierzulande von der Stadtguerilla sprach, stellt hier eine direkte Beziehung zur RAF her: „Was Dutschke noch mit klassenkämpferischer Diktion propagiert hatte, das wurde von dem Abenteurer, dem Auto- und Waffennarr Baader ohne großes ideologisches Federlesen praktiziert.“

Bei so knallig-effektheischenden Aussagen, die sich auf die Autorität eines renommierten sozialwissenschaftlichen Instituts berufen können, blieb für rezensierende Journalisten nicht mehr viel zu tun. Sie konnten sich, natürlich mit aufklärerischem Gestus, dem spektakulären Tabubruch in Hinblick auf die Symbolfigur der 68er-Bewegung einfach anschließen. Dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung dies mit süffisanter Freude getan hat, dürfte niemand überraschen. Aber nicht im Bayernkurier, sondern in der linksliberalen Frankfurter Rundschau wird die Demontage von Rudi Dutschke vereinfachend bestätigt: „Der Band lässt keinen Zweifel daran, dass Dutschke propagierte, was Baader und die RAF praktizierten.“

So weit ist Wolfgang Kraushaar, der Autor des tonangebenden Beitrags über Dutschke, in seinem Text noch gar nicht gegangen. Zwar bezeichnet er in einer Zwischenüberschrift Rudi Dutschke „als Begründer der Stadtguerilla in Deutschland“, er sagt aber auch, dass Dutschke ein politischer Gegner der RAF und des Terrorismus war. So könnte man zunächst noch annehmen, er wolle eben Widersprüche und Ambivalenzen im Denken und Handeln von Rudi Dutschke herausarbeiten („Der Protagonist der Guerilla als Gegner des Terrorismus“). Im früheren Arbeiten hat der kenntnisreiche Chronist der 68er-Bewegung dies schon viel besser und genauer getan, vor allem in einer schon 1987 publizierten Analyse des umstrittenen „Organisationsreferats“ von Dutschke und Krahl auf der SDS-Delegiertenkonferenz vom September 1967.

Obwohl Rudi Dutschke schon sehr früh von der Stadtguerilla gesprochen hat, warnte Kraushaar damals ausdrücklich vor einem Missverständnis: „Dennoch wäre es verfehlt, hier im Nachhinein von einer intellektuellen Vorwegnahme der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sprechen. Nicht nur weil es in einem konkret historischen Sinn falsch wäre, sondern auch weil es zwischen dem Aufruf vom Herbst 1967 und der Praxis der RAF eine unübersehbare qualitative Differenz gibt. Stadtguerilla wird von Dutschke und Krahl noch als Element einer Bewusstseinsstrategie definiert. Der Stellenwert der Militanz ergibt sich aus ihrer propagandistischen Funktion, nicht umgekehrt.“

Das liest sich noch ganz anders als die reißerische Verlagsankündigung von 2005. Aber Wolfgang Kraushaar ist wohl nicht der einzige Sozialwissenschaftler, der in langjähriger Beschäftigung mit seinem Gegenstand hinter eigene bessere Erkenntnisse wieder weit zurückfällt. Wollte er früher verstehen und erklären, scheint es ihm heute mehr um das Entlarven und Anprangern zu gehen. Wenn in den nachgelassenen Dokumenten ein Wort wie „Stadtguerilla“ auftaucht, so fragt er heute nicht mehr nach dessen Bedeutung im jeweiligen Zusammenhang, ihn interessiert nur das Indiz für eine angenommene Bereitschaft zum bewaffneten Kampf à la RAF.

Eines aber fehlt bei Wolfgang Kraushaar wie auch in den Beiträgen von Karin Wieland und Jan Philipp Reemtsma vollständig: die Erwähnung jener Gewalt, gegen die damals eine weltweite Protestbewegung aufstand. Oskar Negt hat 1972 in einer Rede, die gerade wegen ihrer kompromisslosen Distanzierung von der RAF in Erinnerung blieb, das Nötige dazu gesagt: „Wer von Gewalt spricht und sie mit Entrüstung verurteilt, ohne gleichzeitig und in erster Linie von Vietnam zu sprechen, ist ein Heuchler. Bevor es die Desparados der Baader-Meinhof-Gruppe gab, gab es die mörderischen Aktionen der angeblich fortgeschrittensten Demokratie der Welt.“

Auch heute gerät eine Rückschau auf die 60er-Jahre fast zur Geschichtsfälschung, wenn sie ausspart, dass damals die US-amerikanische Militärmaschine mit äußerster Brutalität gegen ein kleines Volk vorging. Das Ende dieses barbarischen Krieges war nicht darauf zurückzuführen, dass die USA militärisch unterlagen, sondern dass die dauernde Konfrontation mit einer zunehmend militanten Protestbewegung der Jugend im eigenen Land für die Herrschenden unerträglich wurde. Der Protest hatte weltweite Dimensionen, und der deutsche SDS mit Rudi Dutschke verstand sich als Teil dieser Bewegung. Gerade die Studenten einer mit amerikanischer Unterstützung erbauten Universität im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt fühlten sich angesichts der Komplizenschaft von Bundesregierung und Westberliner Senat mit der US-Kriegsführung moralisch dazu verpflichtet, für ihren Protest noch andere Formen zu finden als wenig beachtete Beschlüsse von Studentenparlamenten.

Wie viele seiner Weggefährten sah sich Rudi Dutschke durch die täglichen Nachrichten vom Niederbomben Vietnams zum Handeln aufgerufen – und mehr als andere war er von der Dringlichkeit überzeugt, neue Protestformen zu entwickeln, die nicht übersehen oder totgeschwiegen werden konnte. Militanter Protest hieß notwendigerweise Regelverletzung und damit in vielen Fällen das Überschreiten der Grenze zur Illegalität. Fantasievolle Überraschungsaktionen gehörten ebenso dazu wie beispielsweise die Bereitschaft, in Berlin stationierte GIs zu verstecken, wenn sie sich dem bevorstehenden Einsatz in Vietnam entziehen wollten.

Es ist wahr, Aktionen dieser Art ließen sich nicht öffentlich planen und durchführen, und dies stand gewiss im Gegensatz zu der rätedemokratischen Offenheit und Transparenz, die gerade Rudi Dutschke zum Prinzip erhoben und auch vielfach vorgelebt hatte. Aber selbst bei risikoreichen Versuchen, Einrichtungen des US-Militärapparats symbolisch anzugreifen oder in ihrem normalen Funktionieren zu behindern, gab es für Dutschke eine klare Grenze: Er wollte keine Gewalt gegen Menschen, keine Aktionen, die Todesopfer wissentlich in Kauf nahmen. Auch Wolfgang Kraushaar hat dies vor kurzem im Fernsehen wahrheitsgemäß festgestellt.

Und trotzdem legt er es darauf an, ein Dutschke-Porträt zu zeichnen, das ihn in die Nähe der RAF rückt. Auch das Fernsehen fragt nun: Pazifist oder Terrorist? Wie gewalttätig war Rudi Dutschke? Und wieder gibt Wolfgang Kraushaar Auskunft, ohne dass er vor der Kamera mehr „Belastungsmaterial“ vorzeigen könnte als längst bekannte Sprengstoffgeschichten, die sich allerdings gut fernsehgerecht nachstellen lassen, und ein paar Notizen aus dem Nachlass.

Belastungsmaterial? Was treibt überhaupt einen Forscher an einem Institut, das sich der kritischen Sozialwissenschaft verschrieben hat, zu fast kriminalistischen Enthüllungsübungen und zur Inszenierung von Kampagnen? Warum muss Rudi Dutschke jetzt so dringend demontiert werden?

Es scheint, dass der „Kampf gegen den Terror“, wie ihn der größte Kriegsherr gegenwärtiger Zeiten proklamiert und ausgeführt haben möchte, auch das Denken und Forschen einstmals kritischer Geister unterschwellig beeinflusst. Selbst ein Gewaltopfer wie Rudi Dutschke wird nun vorzugsweise als potenzieller Terrorist mit dem Blick des Anklägers überprüft. Dabei dienen doch die Untaten terroristischer Gruppen der gegenwärtigen amerikanischen Führung vor allem als Vorwand, nahtlos an die Vietnamkriegstradition schrankenloser militärischer Intervention anzuknüpfen. Wenn Millionen friedlicher Demonstranten in ganz Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht verhindern konnten – sollten wir nicht erst einmal mit Interesse und Sympathie auf die Versuche Rudi Dutschkes und seiner Freunde zurückblicken, die US-Kriegsmaschine zum Halten zu bringen?

Fehler, die Rudi Dutschke bei einer tastenden Suche nach neuen militanten Protestformen begangen hat, sollen gewiss nicht verschwiegen werden, auch aus ihnen ist zu lernen. Aber wer versucht, aus marginalen Aktionen und Notizen ein ganz neues Bild vom Gewalttäter Dutschke zu konstruieren, kann man als gewissenhaften Zeithistoriker nicht mehr ernst nehmen.

Der Autor war in den Sechzigern führender Aktivist der Außerparlamentarischen Opposition und ist emeritierter Professor für Soziologie in Hannover. – Am vergangenen Mittwoch schrieb Dirk Knipphals zu Dutschke, der Gewaltfrage und der Emanzipation von 68. Die Dutschkedebatte wird kommende Woche fortgesetzt.