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Archiv-Artikel

„Ein Krieg kann gut sein, wenn er das kleinere Übel ist“, sagt Michael Ignatieff

Die linke Kritik ist begründet in der bürgerlichen Bequemlichkeit, sich nicht die Hände schmutzig machen zu wollen

taz: Herr Ignatieff, Sie sind ein Verfechter der Menschenrechte. Wie können Sie Kriege gutheißen und Sie als das zuweilen „kleinere Übel“ bezeichnen?

Michael Ignatieff: Zwischen 1991 und 1995 wurden 250.000 Menschen getötet, nur eine Flugstunde von Wien entfernt – in Kroatien, vor allem in Bosnien. Das war es, was mich zu einen Befürworter der amerikanischen Militärgewalt machte. Denn wie endete das Blutvergießen? Mit Dayton, weil die USA militärisch einschritten. Dennoch sehe ich die Folgen: Wir haben im Kosovo eingegriffen, um die Vertreibung der Kosovoalbaner zu stoppen, mit dem Resultat, dass die Albaner die Serben rauswerfen.

Aber doch mit etwas anderen Mitteln.

Ja, aber wir wollten doch ein multiethnisches Kosovo retten. Und auch in Bosnien ist nicht alles großartig. Aber Menschen werden nicht mehr in großer Zahl ermordet. Das ist viel.

Ist das mit dem Irakkrieg vergleichbar?

Ich habe immer gesagt, im manchen Fällen muss man bereit sein, die Menschenrechte mit Militärgewalt zu verteidigen – in allerletzter Konsequenz. Ich bin nicht naiv: Natürlich nützt die US-Führung die Menschenrechtsrhetorik aus, um ihre eigenen Interessen und Ziele zu befördern. Aber der Sturz der Saddam-Despotie war ein guter Grund, den Krieg zu unterstützen. Den meisten europäischen Kritikern war der Irak schlicht egal.

Wer heute über Krieg oder Frieden entscheiden muss, sitzt in der Zwickmühle. Marschieren wir ein, bringen wir die „muslimische Straße“ gegen den Westen auf. Sind wir gegen eine Intervention, machen wir uns zu Helfershelfern der Despoten.

Deshalb habe ich mich dem Konzept des „kleineren Übels“ zugewandt. Die Menschenrechte sind eine Welt des moralischen Perfektionismus: „Du sollst“ oder „du sollst nicht“. In der Politik dagegen wird über verschiedene Konzepte des Guten gestritten. Ich möchte die Menschenrechte in die praktische Welt der Politik bringen. Wie können wir Menschenrechtsfragen behandeln, um zwischen größeren und kleineren Übel zu wählen? Und wie können wir dafür sorgen, dass das kleinere Übel nicht zum großen Übel wird? Im Fall Irak war eine unilaterale US-Invasion das kleinere Übel, verglichen mit der Alternative, die Hände in den Schoß zu legen und Saddam an der Macht zu lassen.

Wenn man einen Krieg zum Krieg des Guten gegen das Bösen stilisiert, ist es doch nur ein kleiner Schritt bis nach Guantánamo.

Man kann sich in diesem moralischen Relativismus sicher einrichten: Wer sind wir schließlich, das wir zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Wer sind wir, im Irak zu intervenieren? Klingt gut, aber was man dafür kriegt, ist Wien 1994 – ein gutes, risikoloses Leben, während eine Flugstunde entfernt ein Genozid stattfindet. Ein unerträglich hoher Anteil der europäischen Linken vertritt genau solche Auffassungen. Da vermischt sich eine antikoloniale mit einer kulturrelativistischen Rhetorik und einem Generalverdacht gegen den Liberalismus, mit der Konsequenz, dass nur die hergebrachte, bourgeoise Gemütlichkeit in den westlichen Metropolen verteidigt wird. Dieser provinzielle, antiamerikanische Isolationismus muss sich fragen lassen, warum er nur andere der gefährlichen Welt aussetzen will.

Sie sagen, Menschenrechte sind Rechte, keine Werte.

Im Englischen haben wir diese starke Unterscheidung zwischen „right“ und „good“. Deswegen mag ich das Konzept der Menschenrechte – weil es verschiedene Konzepte des „guten Lebens“ verteidigen kann. Freiheit der Versammlung, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit können nicht nur mit westlichen Inhalten gefüllt werden, sondern mit vielen. Wenn man den Schwerpunkt auf Werte legt, dann ist es nicht mehr weit zu der Auffassung, es gäbe nur einen Weg für den Nahen Osten, es gäbe nur ein System. Im Irak wird der Rahmen von demokratischen Rechten sicherlich mit anderem Inhalt gefüllt als bei uns im Westen. Wenn wir aber die Rechte verteidigen, schaffen wir die besten Bedingungen, damit ein Maximum an verschiedenen Versionen des Guten in friedliche Konkurrenz miteinander treten kann.

In Ihrem Buch heißt es: „Gelegentlich müssen Freiheiten in Zeiten der Gefahr geopfert werden.“ Wo endet das?

Wir müssen die Grenzen sehr genau beachten, die nie überschritten werden dürfen. Ich bin geschockt über die Memos aus dem Weißen Haus, die die Folter legitimieren. Aber wie verhindern wir das? Indem wir dafür sorgen, dass die demokratischen Institutionen funktionieren. Die Folter-Memos wurden von Beamten an Zeitungen weitergereicht. Die Folterbilder von Abu Ghraib wurden von Soldaten den Medien zugespielt. Das Militär selbst hat die Übergriffe untersucht. Der Oberste Gerichtshof ist in Hinblick auf Guantánamo eingeschritten. Der Kongress hat eine Untersuchung gestartet. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht, alles ist wunderbar. Aber das System funktioniert. Gewiss: Wir können unsere Freiheit schnell verlieren, und es ist die Freiheit der anderen, mit der es immer beginnt.

In Situationen, in denen man nicht moralisch sauber bleiben kann, wird die Ethik meist suspendiert. Sie aber sagen, gerade in solchen moralisch schwachen Momenten wird die Ethik wichtig.

Gerade wenn es dreckig wird, wenn man in Situationen kommt, in denen man sich leicht die Finger schmutzig macht, müssen wir besonders klar denken. Ich bin ein hundertprozentiger Liberaler. Ich will, dass unsere freien Gesellschaften überleben. Es gibt Leute, die diese Freiheit zerstören wollen. Sie müssen geschlagen werden. So einfach sehe ich die Sache.

INTERVIEW: ROBERT MISIK