RUSSLANDS ENTWICKLUNG IST AUCH EIN VERSÄUMNIS DES WESTENS : Putin setzt auf autoritäre Traditionen
Wer ist Mr. Putin? Anders als noch vor fünf Jahren rätselt heute wohl niemand mehr über diese Frage. Inzwischen lautet die bange Ungewissheit: Wie weit mag es der Kremlchef noch treiben? Demokratieabbau, Menschenrechtsverletzungen und plumpe Störversuche bei souveränen Nachbarn markieren die Linie der Kremlpolitik nicht erst in der zweiten Amtszeit des Präsidenten. Seither geht der Kreml indes noch grober und rücksichtsloser vor. Selbst auf verhaltene Kritik reagiert Moskau mit großkalibrigen Geschossen. Die dank Putin gestiegene internationale Wertschätzung Moskaus erlaube es dem Kreml wieder, mit dem Schuh auf den Tisch zu klopfen wie einst Chruschtschow vor den Vereinten Nationen. Davon ist die im Komsomol und im KGB sozialisierte Führungsschicht im Kreml felsenfest überzeugt.
Dass es so weit kommen konnte, ist auch ein Versäumnis des Westens. Die Entwicklung war abzusehen. Tschetschenienkrieg, Wahlmanipulationen, Yukos-Affäre – die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Immer währende westliche Bedenken, Russland durch Kritik zu verprellen oder Wladimir Putins Position zu schwächen, sind nachvollziehbar, aber nicht begründet. Die Chancen, Russland einzubinden, standen in der ersten Amtsperiode Putins günstig wie nie: Die Popularität des Kremlchefs, eine boomende Wirtschaft, Wohlwollen in Europa und die Chance, nach dem 11. September Juniorpartner der USA zu werden, hätten ein tragfähiges Fundament geboten. Schuld trifft beide, den Westen und Putin. Trotz bester wirtschaftlicher Voraussetzungen hat der Kremlchef Russland zurück auf das Gleis autoritärer Tradition geschoben. Die Fahrt wird in einem Sackbahnhof enden.
Vielleicht spürt der Kreml das sogar und reagiert daher kopflos und zuweilen überheblich. Unterdessen dürfte im Westen bald eine alte Diskussion eine Neuauflage erleben. Welches Russland wollen wir? Ein schwächelndes oder ein wirtschaftlich starkes? Bislang sah man in der Schwäche eine Gefahr. Nun ist es ein halbwegs genesenes Russland, das neue Kräfte zur Durchsetzung alter Interessen bündelt. Die Gleichung „Wirtschaftsaufschwung = Stärkung der Demokratie“ ist in Russland bisher nicht aufgegangen. KLAUS-HELGE DONATH