: Des Dubs reine Seele
Man darf sie ruhig Kontrollfreaks nennen: Das Produzententeam Rhythm & Sound arbeitet in einem Kreuzberger Hinterhof an seiner einzigartigen Verbindung von Techno-Ästhetik und Dubreggae
VON TIM STÜTTGEN
Es ist ein typischer Berliner Hinterhof, in dem der legendäre Techno-Plattenladen Hardwax steht. Man braucht eine Weile, um den Eingang zu finden, selbst wenn man sich die Adresse vorher herausgesucht hat. Haben die Blicke dann aber ihre Runden über das sorgfältig sortierte Vinyl abgeschlossen, fällt das Auge auf ein Monster von Musikanlage, das wie ein Monolith im Laden thront, als wäre es aus einer anderen Zeit: das Soundsystem.
Entgegen den aufgeräumten High-Fidelity-Mythen der Techno-Welt und ihrem digital klaren Sounddesign, das oft mit futuristisch geglätteten, ästhetischen Oberflächen arbeitet, wirkt diese Anlage wie ein altes Schlachtross, das schon ganz andere Geschichten in der Welt erlebt hat. Geschichten, die sich nicht auf die geschlossenen Partyräume des Clubs beschränken. Laut Zeugenaussagen soll das ganze Haus vibrieren, wenn die Anlage nur ansatzweise aufgedreht wird.
Kein Wunder, denn dieses Soundsystem ist echt. Von japanischen Reggae-Liebhabern gebaut, hat es durch zahlreiche Zufälle seinen Weg nach Deutschland gefunden. Hier steht es nun, stolz und unterfordert, denn seine wirkliche Macht kann es nur unter offenem Himmel entfalten. So wie auf den Yard-Parties in Kingston. Nach genau deren Anforderungen ist es entwickelt worden.
Nie war Reggae in Deutschland so populär wie in den letzten Jahren. Von der aggressiv-pubertären Streitkultur der deutschen Rap-Szene offensichtlich abgeturnt, hat sich eine neue Hörer- und Künstlerschaft herausgebildet, die harmonischen Ganja-Vibes aus Jamaika in den eigenen Lebenszusammenhang übersetzt. Schon lange gibt es in Städten wie Hamburg oder Köln auch gute Soundsystem-Crews, Gruppen von DJs – im Reggae nennt man sie Selekta – und Vokalisten, die die Party zu rocken verstehen. Doch eine eigene Anlage, ein wirkliches eigenes Soundsystem, besitzen sie nicht. Merkwürdige Welt, meinen Mark Ernestus und Moritz von Oswald. Kein Wunder allerdings, dass bei ihnen im Laden eines steht. Denn die puren Substanzen, mit der die beiden Produzenten und Komponisten, Labelbetreiber und Shop-Besitzer seit mehr als zehn Jahren die klanglichen Tiefen von Techno revolutioniert haben, sind Reggae und Dub.
Auf der Basis ihrer zahlreichen Projekte – Basic Channel, Maurizio oder Burial Mix – ist mittlerweile sogar ein eigener Genrestil entstanden: Dubtechno. Das straighte Charisma des Techno-Sounds aus Detroit, der urbane Einsamkeit und die tägliche Entfremdung der Afroamerikaner verarbeitet, haben sie respektvoll und geschichtsbewusst aufgearbeitet, um ihm eine neue räumliche Dimension zu geben. In endlos erscheinenden Trackmonotonien, die auf dem Prinzip von Differenz und Wiederholung beruhen, lassen sie den Tänzer in hypnotischen Schleifen in die Unendlichkeit eintauchen. Ein See aus Rhythmus und Sound.
Rhythm & Sound heißt das seit langem persönlichste Projekt von Mark Ernestus und Moritz von Oswald. Nachdem sie jeden erdenkbaren Techno-Tanzboden zu einem Zylinder des klaren Flows generiert haben, sind sie langsam bei Dub und Reggae selbst angekommen. Es dürfte kaum zwei ähnlich versierte Kenner und Genießer der jamaikanischen Musik geben, die in Deutschland Musik produzieren. Man kann stundenlang über eine legendäre Platte diskutieren, biografische Anekdoten vergessener Kingstoner Meister austauschen und die ambivalenten Produktionszusammenhänge des Reggae-Geschäftes diskutieren.
Dabei sind Rhythm & Sound keine Nerds oder Fleißkartensammler. Die akribische Aufarbeitung des schwarzen Technos aus Detroit und des jamaikanischen Reggaes ist für sie eine selbstverständliche Haltung. Konsequent in der Tradition der einstigen Techno-Revolution positioniert, die Cover und Künstlerfotos abschaffte, um das klassische Musiker-Subjekt zu verabschieden, lassen sie auch von sich keine Fotos zu und noch nicht mal das Diktiergerät beim Gespräch mitlaufen. Es sollen keine konkreten Zeichen hinterlassen werden, alles, was dem Journalisten bleibt, sind Stift und Papier.
Als deutsche Musiker, die einen lokalen Sound mit der Aneignung schwarzer Musiken fusionieren, lässt sich ihre konsequente Künstler- und Labelstrategie gedoppelt verstehen: Einerseits ist man in der Tradition der radikalen Techno-Produzenten Underground Resistance so konsequent, dass selbst andere Künstler auf ihrem Label unsichtbar bleiben und nicht das selbstverständliche Privileg eines individuellen Coverartworks genießen können. Andererseits funktioniert diese Unsichtbarkeit auch als eine Geste, die verhindert, dass Künstler einer privilegierten europäischen Markt-Struktur mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Innovatoren und Erfinder der angeeigneten Roots-Musiken selbst. Die Labelmacher Ernestus und von Oswald gehen dabei sicher die Gefahr ein, als Mythenbildner und Geheimniskrämer zu gelten. Aber damit können sie schon lange gut leben.
Klassische Alben haben Rhythm & Sound bisher noch nie gemacht. Mit dem Wahl-Berliner Paul St. Hillaire (bis er nach einem Rechtsstreit sein Pseudonym aufgeben musste, auch als Tikiman bekannt) haben sie nach klassisch jamaikanischem Prinzip lange Tracks und dazu gehörige Versions veröffentlicht. Erst nachdem ein halbes Dutzend Maxis voll waren, wurde eine CD veröffentlicht, auf der sich die originäre Musik, welche unaufdringlich den ganzen Raum auffüllt, wirklich ausbreiten konnte. Weil diese Kollektion nie als Album geplant war, wusste man gar nicht, worauf man so gewartet hatte. Nicht mit dem Prozac-Effekt von Ambient oder stylischen Milchkaffee-Soundtracks des Easy Electronic Listening vergleichbar, hat der Rhythm & Sound’sche Schall eine enorme Präsenz.
Der englische Musik-Theoretiker Kodwo Eshun hat einmal behauptet, dass jede neue musikalische Struktur auch die Ordnung der Körperverhältnisse beeinflusst. Bei den filigranen Mikrostrukturen der vielschichtigen Beats und Bässe landet der Körper entspannt in einem unendlichen Zwischenraum, an dem er nichts Altes ablegen muss, aber den Platz hat, seine Koordinaten zu ändern. Die Stücke von Rhythm & Sound entscheiden sich bewusst nicht zwischen Track und Song, gerade durch ihre Dehnung der zeitlichen Wahrnehmung und die improvisierten Gesangslinien des Vokalisten scheint alles unfertig und doch schon über jegliche Perfektion hinaus.
Um den Perfektionismus kommt man bei Ernestus und von Oswald nicht herum, man darf ruhig Kontrollfreaks zu ihnen sagen. Selbst die Platten werden selbst gepresst, das Label ist natürlich independent, der Backkatalog wird jederzeit neu aufgefrischt. Durch die avancierte Technoproduktionsästhetik haben die Stücke eine Fülle, wie sie im Dub selten sind. Doch eine Hinwendung zum Zufall, die über das kleine Camp mit dem Singjay Paul St. Hillaire hinausgegangen ist, finden sich neue Arbeitsweisen und Plätze für Spontanität. Nach der Dekonstruktion von Dub durch die Mittel von Techno und die Ausstellung der verschiedenen Musikwelten zweier Gesellschaften in einem Entwurf bewegen sich Rhythm & Sound jetzt vollkommen den alten heiligen Wurzeln entgegen.
„See Mi Yah“ (Burial Mix/Indigo), das neue Album, ist genau wie die vorige CD „Rhythm & Sound w/ The Artists“ bei dem Klassizismus des traditionellen Rootsdub angekommen. Mit einer Gästeliste, auf der jamaikanische alte Helden wie Jah Cotton auf in Berlin lebende Migranten wie Ras Donovan treffen, scheint nach zehn Jahren Arbeit an der Differenz der Schritt in die legendäre Vergangenheit der glorreichen Roots-Musik der Siebzigerjahre vollzogen: traurige Sufferah-Sounds und hoffnungsvolle Befreiungs-Oden, allesamt bei Gastspielen im Rhythm-&-Sound-Studio aufgenommen. „See Mi Yah“ ist sogar formal konsequent klassizistisch und bedient das Genre des One-Riddim-Albums. Ein Track, ein Sänger, eine Variation des Tracks, ein anderer Sänger. Zehnmal nacheinander, eine ewige Schleife, die darauf aufmerksam macht, wie wichtig in der formalen Struktur des Reggae die Unterscheidungen zueinander sind, auch wenn sie minimal wirken: Je genauer man hinhört, desto mehr wird man belohnt.
Bis zum Ende hätten sie nicht gewusst, ob es wirklich klappt, sagen die Produzenten. Wenn es nicht als Album funktioniert hätte, hätte man das Projekt abgebrochen. Die Besuche ausländischer Reggae-Künstler seien in der gegenwärtigen Lage des Geschäfts eine ambivalente Angelegenheit. Das Dubplate-Business, in dem große Kingstoner Namen in zwei Tagen Europa und Japan betouren, um in einer Stunde jeweils eine exklusive Single für das jeweilige Soundsystem vor Ort einzusingen, sei zur Fließbandarbeit verkommen. Rein ins Studio, raus ins Studio, Geld in die Hand. Dass da wenig gute Arbeit oder persönliche Bindung zwischen Soundsystem und Vokalist herrscht, ist offensichtlich. Doch die meisten Künstler kommen aus Vorstädten und Ghettos und haben Familien zu ernähren. Marc Ernestus sieht sich nicht in der Position, diese Praxis zu kritisieren. Trotzdem habe man andere Ansprüche gehabt. Wie es gelungen ist, Künstler für zwei Tage einzuladen, ohne das richtige Geld in der Tasche zu haben, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Alte Recken der Singer-Historie wie Sugar Minott saßen dann im Berliner Keller und schwärmten davon, dass es sich wie in alten Zeiten angefühlt habe. Das Ergebnis tut es auch. Mit bösem Willen könnte man diesem Album sogar Anachronismus vorwerfen und sich wundern, warum die ehemaligen Produktionsinnovatoren Ernestus und von Oswald nun beim jamaikanischen Roots-Konservatismus angedockt haben.
Doch das Album ist nicht nur zu gut und zu zeitlos dazu, sondern auch zu konsequent. Wo früher mit dem grauen Cover-Artwork eine Anonymität des Künstlerseins praktiziert wurde, sind bei „See Mi Yah“ auf einmal die Fotos der Vokalisten zu sehen. Rhythm & Sound sind nach Jahren der Arbeit für die Sichtbarkeit des Reggaes selbst an dessen Idealbild angekommen. Dabei niemand anderen als die jamaikanischen Interpreten ins Zentrum zu rücken, während man sich weiter bedeckt hält, ist ein Zeichen zutiefst respektvollen musikalischen (Kultur-)Austausches.
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