: Nach den Projektionen
Es gibt Fortschritte auf dem langen, gewundenen Weg der Emanzipation von 68: Wer Wolfgang Kraushaars neue Studie über Rudi Dutschke gelesen hat, für den sehen die bisherigen Abgrenzungsdebatten von der Studentenrevolte ganz schön alt aus
VON DIRK KNIPPHALS
Dass man staubtrockene Aufsätze mit Gewinn liest, kommt häufiger vor; dass man es auch mit ästhetischem Genuss tut, nicht alle Tage. Bei Wolfgang Kraushaars Studie „Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf“ aus dem kleinen, „Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“ betitelten und sowieso gerade Furore machenden Bändchen des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es der Fall. Wolfgang Kraushaar weist darin nach, dass Rudi Dutschke nicht zum leuchtenden Vorbild unserer Zivilgesellschaft taugt (so zivil war er nämlich gar nicht), und das ist schon mal das eine. Das andere ist der Tonfall von Kraushaars Studie – dieser Ton macht sie wirklich zum Ereignis.
Wolfgang Kraushaar geht streng philologisch vor. Textstellen, Zeitzeugen, Zitate. Nenn es buchhalterisch, nenn es kristallklar, jedenfalls legt er ohne Ober- oder Untertöne dar, dass es eben Rudi Dutschke war, der das Konzept der Stadtguerilla theoretisch vorbereitet hat, und zwar schon im Februar 1966. Bis zu diesem Zeitpunkt zurück hat Kraushaar in Dutschkes Aufzeichnungen Belegstellen gefunden. Das Stadtguerilla-Konzept – unverzichtbar für die mentale Innenausstattung der RAF – kann also nicht „einfach als Verfalls- und Verzweiflungsprodukt der 68er-Bewegung“ (Kraushaar) gedeutet werden, wie viele das tun. Collagiert aus Theoriefragmenten Che Guevaras sowie der „Theorie des Partisanen“ von Carl Schmitt, hat sich Dutschke schon vor 68 eine „urbane Guerilla“ erträumt. An diesem Punkt wird niemand mehr vorbeikommen, der sich anschickt, aus Dutschke einen gewaltfreien Heiligen zu stilisieren.
Aber nun kommt eben der Tonfall: Diese Studie ist keine Anklageschrift. Ebenso überzeugend, wie er Dutschkes vermeintliche Gewaltfreiheit widerlegt, macht Kraushaar klar, dass sich Dutschke in den Siebzigerjahren entschieden von der dann realen RAF distanziert hat. Es geht also darum, Dutschke zu verstehen, nicht darum, ihn als Helden- oder Abgrenzungsfigur aufzubauen. Spätestens das ist der Punkt, an dem man hier geradezu etwas Vorbildliches erkennen möchte. Seine ganze Anlage zeigt Augenmaß und Sachlichkeit – schöne Tugenden, die man bei historischen Studien aber eigentlich von vornherein voraussetzen können sollte. Dass sie hier so ins Auge stechen, muss man erklären.
Es geht hier natürlich um das Umfeld. Lesern dieser Zeitung muss man ja nicht erst umständlich erzählen, dass diese beiden Tugenden beim Thema 68 keinesfalls der diskursive Standard sind, eher im Gegenteil. Da wird verbrämt und verklärt, was das Zeug hält, namentlich von Alt-68ern selbst, aber nicht nur von ihnen. Nachträglich wird 68 auch als rohe, wilde Zeit, da man noch Utopien hatte, verkitscht – oder auf der anderen Seite ebenso verkürzt als großes Verhängnis ausgemalt, als Zeitpunkt, an dem alle Werte den Bach runtergingen. Ein jeder baut sich aus 68 einen Popanz oder einen Luftballon, wie es ihm passt.
Vor diesem Hintergrund hebt sich Kraushaar hell ab. Seit vielen, vielen Jahren arbeitet er die Geschichte der Protestbewegung nun schon auf, bei jedem möglichen Argument und Gegenargument hat er schon drei Belegstellen aus der Schublade gezogen; so etwas macht gelassen. Diese Gelassenheit wendet Kraushaar nun auf Dutschke an.
Das, was an dem Aufsatz so auffällt, geht aber noch tiefer. Von den Mythen um 68, auch von den symbolischen Kämpfen um diesen Komplex, scheint er sich von seiner ganzen Gestalt her emanzipiert zu haben. Er ist in kein höheres Projekt mehr eingebettet, sei es das einer Abrechnung oder sei es das einer Verteidigung von 68, wie immer noch so viele Untersuchungen zu diesem Thema. Stattdessen gibt es bei dieser Dutschke-Studie ein Ethos, das nur eins will: einen klaren Blick auf die Phänomene kriegen. Und man nimmt von der Lektüre den Eindruck mit, dass diese Souveränität bei Licht besehen die einzige noch richtige Herangehensweise an den Komplex 68 ist.
Es sage nun keiner, dass das doch eh klar war. Denn dass diese Souveränität weitgehend noch fehlt, ist kein Zufall. Immer noch ist der Komplex 68 viel zu sehr mit dem Selbstverständnis ganzer Jahrgangskohorten verknüpft. Lebensweltlich gibt es immer noch eine Menge durchzuarbeiten.
Dass das nicht ohne schiefe Töne und Gepresstheiten abgehen kann, zeigen die letzten drei einschlägigen Selbstverständnisdebatten. Vor gut zehn Jahren leckte die Generation der 78er trotzig und ein wenig beleidigt die imaginäre Wunde, keine echten Revoluzzer und 68er gewesen sein zu dürfen; zu spät geboren, bestrafte sie die bleierne Zeit. Die Nachfolgegeneration, die Generation Golf, baute dagegen die 68er zu Pappkameraden um: Friedensmarschierer, Natürlichkeitsfanatiker, mülltrennende Moralschleudern. Der Tonfall der Generation Golf war albern und verspielt, und man merkte, dass es sich diese Kohorte zu leicht gemacht hatte; die vielen Gelegenheiten, 68 zu karikieren, boten eine allzu schnelle Möglichkeit an, Eltern-Kind-Differenzen wegzuwitzeln.
Wenig später machten die so genannten Kinder der 68er allerdings Ernst mit der Abgrenzung: Hallo, mit eurem antiautoritären Gesülze habt ihr uns unsere Jugend gestohlen! Hier war der Tonfall von tiefem Ernst geprägt. Allerdings weiß man nicht recht, was zuerst kam: wirklich die Anklagen der 68er-Kinder oder vielmehr die nur nach außen projizierten Selbstanklagen der 68er-Generation selbst. Manchmal erscheinen die Kinder der 68er wie eine Wunschprojektion ihrer Eltern, um daran die eigenen renegatischen Impulse abarbeiten zu können.
Alle diese Tonfälle hatten etwas Gepresstes, sie wirkten wie unter Druck gesprochen. Das ist erklärbar. Schließlich war es einer der größten Erfolge der 68er selbst, die Geschichte in die Welt zu setzen, dass nach der Manie einer knapp verpassten Revolution nur noch die Depression der verfehlten Möglichkeiten zu konstatieren sei. Oder in einem damals oft zitierten Dichterwort: Nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. Wer sich überlegt, was für eine biografische Bürde so etwas für Nachgeborene sein kann, wird im Rückblick durchaus nachsichtig auf den langen und gewundenen Weg schauen, den die Emanzipation von den 68ern genommen hat. Aber es gilt doch die Einsicht: Wer souverän über 68 reden will, muss sich erst einmal identitätspolitisch von 68 lösen.
Genau um diesen Punkt geht es im Moment. Es mag zwar ein bisschen seltsam erscheinen, Kraushaars Aufsatz in eine Reihe mit den genannten Debatten zu stellen, aber in einer Hinsicht steht er es eben tatsächlich: Dass das souveräne Reden mittlerweile möglich ist, zumindest im wissenschaftlichen Diskurs, das zeigt er. Vielleicht folgt das lebensweltliche Reden ja nach. Jedenfalls hat man nach der Lektüre nicht nur keine Lust mehr auf all das Klugschreibertum und die durchsichtigen diskursiven Manöver, die rund um 68 so vorherrschend sind. Wolfgang Kraushaars Dutschke-Studie motiviert einen auch dazu, die Emanzipationsgeschichte von 68 für erfolgreich beendet oder, vielleicht noch wichtiger, mittlerweile für langweilig zu erklären. Etwas paradox ausgedrückt: Auch von der Emanzipation von 68 muss man sich wieder emanzipieren, und der Zeitpunkt, da das erreicht ist, könnte mittlerweile gekommen sein.
Das Terrain ist noch ziemlich unübersichtlich, aber es kann gut sein, dass man einmal die Debatte um Sophie Dannenbergs 68er-Roman „Das bleiche Herz der Revolution“ als Punkt, an dem die Sache kippte, begreifen lernt. Dass man sich in der aufgeregten Diskussion darum, wer nun hinter diesen Pseudonym steckt, nur entweder Renegatentum oder eine innerfamiliäre Auseinandersetzung vorstellen konnte, hatte etwas Entlarvendes. Niemand gab sich mit der Idee ab, dass 68 auch für nicht unmittelbar Betroffene ein schönes Thema sein könnte – besser kann man die Distanz zu diesem Thema gar nicht demonstrieren.
Allerdings gibt es auch Phänomene, die in dieser Emanzipationsperspektive schwer unterzubringen sind, zumindest auf den ersten Blick. So hat diese Zeitung mit ihrem Projekt einer Rudi-Dutschke-Straße überraschend viele offene Türen eingerannt. Außerdem gab es zuletzt diese linksliberale Totalverknalltheit in den Film „Die fetten Jahre sind vorbei“, von vielen Kommentatoren als Rückwendung zur 68er-Generation gedeutet.
Auf den zweiten Blick kann man das aber auch anders deuten: als pure Nostalgie. Der Komplex 68 hält inzwischen für die Gegenwart einen Code bereit, eine Begrifflichkeit und eine Metaphorik, in den man seinen neobürgerlichen Selbstzweifel – manchmal vielleicht sogar Selbstekel – und seinen Überdruss an den komplizierten Verhältnissen der Gegenwart einspeisen kann. Das hat man manchmal. Da muss man dann durch. Mit dem historischen Komplex 68 hat das aber kaum noch etwas zu tun.
Nichts gegen Nostalgie übrigens. Unsere Gegenwart ist kompliziert genug, einige entlastende Ausflüge in übersichtlichere Zeiten kann man sich gönnen. Wenn das Kino vorbei ist, sollte man sich aber wieder souveräneren Perspektiven zuwenden.