: Haltbare Dichterspucke
Schriften zu Zeitschriften: Dokumente einer vermeintlichen Unmündigkeit – in den „Losen Blättern“ unterziehen Autoren und Autorinnen ihre erste Buchveröffentlichung einer neuerlichen Betrachtung
VON OLIVER PFOHLMANN
Literatur ist dem Gedächtnis verpflichtet. Zahllos die Werke, in denen erinnert wird und hemmungslos verflossene Liebschaften oder furchtbare Kindheiten beschworen werden. Der Blick zurück ist der dem Dichter angemessene. Es sei denn … es sei denn, dieser Blick soll sich auf das eigene Schreiben und seine Anfänge richten.
Auf die erste Buchveröffentlichung etwa. Da regen sich rasch allerlei Widerstände, da erscheint die Konfrontation mit dem früheren, doch noch so unvollkommenen Autoren-Ich als so peinigend und peinlich, dass man sie lieber vermeiden möchte. „Ich schäme mich einiger Texte“, bekennt etwa Friederike Mayröcker. Fast fünf Jahrzehnte liegt ihr erster Prosaband zurück. Den sie aus Furcht vor einer Blockade dann auch gleich wieder zuschlägt. Nicht dass jüngere Autoren in dieser Frage gelassener reagierten. Der 1988 debütierende Durs Grünbein sekundiert: „Nichts um alles in der Welt kann den Autor dazu bringen, dieses Dokument seiner Unmündigkeit noch einmal in Betrachtung zu ziehen.“ Offensichtlich stellt die Auseinandersetzung mit den eigenen Anfängen für verletzliche Dichterseelen ein Risiko dar. Bekannt ist der Fall Christa Wolf, wo auf die neuerliche Lektüre ihrer „Moskauer Novelle“ eine Selbstabrechnung folgte. Erstaunlich daher, wie viele Autoren die rührigen Herausgeber der Zeitschrift Lose Blätter, Renatus Deckert und Birger Dölling, dazu bewegen konnten, das Wagnis doch auf sich zu nehmen. In durchweg lesenswerten Essays notieren 13 Autoren und Autorinnen wie etwa Günter Kunert, Kurt Drawert, Uwe Kolbe oder Ilse Aichinger, was ihnen bei der Re-Lektüre durch den Kopf geht. Und an welche Begleitumstände von damals sie sich noch erinnern: vom mütterlichen Küchentisch als erster Schreibunterlage (Aichinger) bis zum inquisitorischen Besuch einer „unattraktiven Kulturtussi vom Zentralkomitee der SED“ (Drawert).
Und siehe da: Meist macht sich beim Wiederlesen doch Erleichterung breit, erkennt man sich wieder, nehmen Intentionen und Motive das spätere Werk vorweg, schlägt die Besorgnis um in Stolz über die einstige Leistung. „Die Worte wurden und werden noch immer von meiner Spucke zusammengehalten“, stellt Gerhard Falkner bei der Lektüre seines ersten Gedichtbandes „so beginnen am körper die tage“ (1981) befriedigt fest: „Eine DNS-Analyse kann das belegen“, und zeiht dabei gleich den Rest der gegenwärtigen Literatur der „Literaturimitation“.
Zu groß darf das Lob für das frühere Ich freilich auch nicht ausfallen. Schlimmer als das Eingeständnis frühen Unvermögens wäre es, feststellen zu müssen, dass man jene Leidenschaft und Radikalität heute nicht mehr aufzubringen imstande wäre. Bei Jürgen Becker klingt das an, der seinen Prosaband „Felder“ von 1964 lange nicht in die Hand nehmen wollte, aus Angst, „noch einmal in den Strudel sprachlicher Bewegungen zu geraten, die alles auflösen, was an Gewissheit und Gewohnheit in der Sprache untergebracht erscheint“. Andere Autoren, die ihr Debüt zur Zeit der Wende erlebten, empfinden den Epochenbruch als zusätzliches Handicap. Der Untergang des Sozialismus verwandelt die Zeitspanne von gerade mal 15 Jahren zur Ewigkeit. Wie bei Durs Grünbein: „Schon ein Jahr nach seinem Erscheinen war das Buch um ein halbes Jahrhundert gealtert.“ Nicht anders erging es Brigitte Oleschinski. Sie musste 1990 erleben, dass „plötzlich alles Geschichte wurde, was in den Gedichten noch Gegenwart war“.
Kurios dagegen ist der Fall Thomas Brussig. Sein Debüt „Wasserfarben“ von 1991 erlebt seit einer Neuausgabe zehn Jahre später eine Art zweite Geburt. Heute sagt Brussig: „Es ist keine Kunst, ‚Helden wie wir‘ oder die ‚Sonnenallee‘ gut zu finden – das sind Bücher, mit denen viele etwas anfangen können, die aber kaum erschüttern. ‚Wasserfarben‘ hat bestimmt nicht tief begeistert – aber manchmal ganz tief berührt.“
„Erste Werke“. Lose Blätter, Heft 31, Januar 2005. 40 Seiten, 2 Euro