: „Es gibt keinen Grund, beleidigt zu sein“
Ein Verbot der NPD ist möglich, meint der zuständige Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch, denn ein Verbot ist eine präventive Maßnahme. Innenminister Schily rät er, seine Niederlage beim letzten NPD-Verfahren nicht zu schwer zu nehmen
taz: Herr Jentsch, Sie waren Berichterstatter im NPD-Verbotsverfahren, das 2003 gescheitert ist. Unter welchen Bedingungen kann heute eine Partei verboten werden?
Hans-Joachim Jentsch: Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden, sind verfassungswidrig.
Jetzt haben Sie das Grundgesetz zitiert. Was sich daraus aber nicht ergibt: Muss durch die Partei bereits eine konkrete Gefahr für die Verfassungsordnung eingetreten sein?
Sicher ist: es kommt nicht auf einen Erfolg an. Ein Verbot ist möglich, bevor die Verfassungsordnung beeinträchtigt ist. Ein Parteiverbot ist eine präventive Maßnahme. Ob eine konkrete Gefahr erforderlich ist oder ob eine abstrakte Gefahr ausreicht, ist in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten.
In den 50er-Jahren hat das Bundesverfassungsgericht keine konkrete Gefahr verlangt …
Darüber wird man sicher neu nachdenken. Aber die Systematik des Grundgesetzes spricht dagegen, dass eine konkrete Gefahr erforderlich ist.
Das würde ein Verbot ja deutlich erleichtern. Muss nach dem NPD-Eklat im sächsischen Landtag neu über ein Verfahren nachgedacht werden?
Diese Frage muss die Politik beantworten. Als Richter will ich nur darauf hinweisen, dass eine Einzelaktion allein nicht für ein Verbot ausreichen kann. Es kommt immer auf das Gesamtbild der Partei an.
Innenminister Otto Schily wirkt etwas beleidigt, seit das Verbotsverfahren im März 2003 nach der V-Mann-Affäre eingestellt wurde …
Es gibt keinen Grund dafür, beleidigt zu sein. Die Anforderungen an Verbotsanträge sind nach dem März 2003 dieselben wie vorher.
Ist das eine indirekte Aufforderung an die Politik, es erneut zu probieren?
Nein, ich wehre mich nur dagegen, wenn das Gericht beschuldigt wird, es habe die Anforderungen unzumutbar erhöht. Das Instrument des Parteiverbots ist heute genauso tauglich wie vor der Entscheidung im März 2003.
Erhöht wurden die Anforderungen aber doch?
Sie wurden klargestellt, und zwar in zwei Punkten. Zum einen darf die Beobachtung einer Partei mit V-Leuten nicht dazu führen, dass dem Gericht Vorgänge als Beweismittel angedient werden, die nicht zweifelsfrei der Partei zuzuordnen sind, weil V-Leute des Staates involviert sind. Zum anderen gilt im Gerichtsverfahren Waffengleichheit, das heißt, wer einen Verbotsantrag stellt, darf nicht gleichzeitig Einfluss auf die Positionen der Partei nehmen, die er verbieten will.
Das Ende des Verbotsverfahrens im März 2003 erzwang eine Sperrminorität von drei Richtern. Sie gehörten nicht dazu …
In den Maßstäben für das Verfahren waren Mehrheit und Minderheit nicht weit auseinander. Die Minderheit wollte das Verfahren aber sofort abbrechen, während die Mehrheit dem Staat die Möglichkeit gegeben hätte, Bedenken in einer mündlichen Verhandlung auszuräumen.
Muss das Verbotsverfahren den Anforderungen der heutigen Zeit angepasst werden?
Eine Änderung im Grundgesetz ist nicht erforderlich. Im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht halte ich allerdings eine Änderung für sinnvoll. Bisher müssen im Parteiverbotsverfahren alle für die Partei belastenden Fragen mit Zweidrittelmehrheit entschieden werden. Es sind also sechs von acht Richterstimmen erforderlich. De facto ist das eine Dreiviertelmehrheit. Diese Hürde ist zu hoch. Eine einfache Mehrheit würde genügen.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH