: „Der Holocaust geschah zum Vorteil aller Deutschen“
INTERVIEW ROBIN ALEXANDER
taz: Herr Aly, hat Adolf Hitler den deutschen Sozialstaat erfunden?
Götz Aly: Nein, doch er hat den Sozialstaat mit Schwung weiterentwickelt. Unsere Steuerklassen I bis IV etwa stammen aus der Reichsfinanzreform von 1934, auch das Ehegattensplitting oder die Kilometerpauschale, die Edmund Stoiber heute so mannhaft verteidigt. Sie wurde getreu dem „nationalsozialistischen Grundsatz“ eingeführt, dass auch der deutsche Arbeiter die Möglichkeit haben sollte, im Grünen zu leben. Unsere Rentner sind erst seit 1941 Mitglieder der gesetzlichen Krankenkasse, vorher hatten sie sich an Wohltätigkeitsorganisationen zu wenden; einen Arztbesuch konnten sich die meisten bis dahin nicht leisten. Die Beispiele, wie die Sozialverfassung der Bundesrepublik en detail im Nationalsozialismus vorgeprägt wurde, lassen sich fast endlos aneinander reihen.
Das ist im Gegensatz zu den Verbrechen des Nationalsozialismus kaum im öffentlichen Bewusstsein.
Es ist für uns Nachgeborene angenehm, den Nationalsozialismus auf seine unvergleichlichen Verbrechen zu reduzieren. In den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches – in Österreich, in der DDR und in der Bundesrepublik – fand man unterschiedliche, im Effekt jedoch ähnliche Strategien, um die Schuld der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung zu minimieren. Sämtliche Bewältigungsideologien blenden über das soziale Appeasement hinweg: Den einfachen Leuten ging es im Nationalsozialismus gut. Sie haben gerne mitgemacht und vom Krieg profitiert.
Meine Großmutter wurde zweimal ausgebombt, ihr Mann im Russlandfeldzug schwer verwundet. Es fällt schwer, sie mir als Kriegsprofiteurin vorzustellen.
Dass die Deutschen Opfer gebracht haben – namentlich im letzten Drittel des Krieges – steht außer Frage. Aber fragen Sie Ihre Großmutter einmal, wie viel Geld sie in den ersten Kriegsjahren zur Verfügung hatte, wie sie nach den Bombenangriffen versorgt wurde. Und fragen Sie sie, ob ihr Mann von der Front Päckchen schickte und was darin war. Mindestens bis 1942 – und außerhalb der Sowjetunion bis in das Jahr 1944 hinein – muss man sich den Wehrmachtsoldaten als bewaffneten Butterfahrer vorstellen. Wenn man die Frauen fragt, die sich an diese Jahre erinnern, dann erzählen sie fast immer das Eine: Im Krieg hat alles gut funktioniert, wir hatten genug, erst danach mussten wir hungern.
Sie haben herausgefunden, dass gerade die Initiatoren der Vernichtungspolitik, wie Hitler und Himmler, im Konflikt mit einer eher konservativen Verwaltung bestrebt waren, Belastungen für die einfachen Deutschen zu vermeiden. Was waren die Motive?
Die NSDAP- und SS-Führer waren Leute aus dem Volk. Sie wussten, was es bedeutet, wenn der Gerichtsvollzieher klingelt, und wie es ist, wenn eine komplette Familie wegen Mietschulden auf die Straße gesetzt wird. Die ersten NS-Gesetze erschwerten das Pfänden und Exmittieren; plötzlich rangierte der Schuldnerschutz vor dem Interesse des Gläubigers. Die NS-Führer waren großteils den zweiten Bildungsweg gegangen, hatten sich als Autodidakten hochgearbeitet – ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen entsprachen denen von Willy Brandt, Gerhard Schröder oder Erich Honecker. Das programmatische Ziel, in Deutschland mehr Chancengleichheit zu wagen, war der NSDAP ein ernsthaftes Anliegen. Außerdem ging es den Führern dieser ersten deutschen Volkspartei natürlich auch darum, die Stimmung an der Heimatfront im Lot zu halten.
Mit Erfolg?
Ja. Die Leute waren vor allem mit sich selbst beschäftigt und gewannen nach anfänglicher Skepsis und Kriegsangst rasch das Gefühl: Der Krieg ist lange nicht so schlimm wie der vorangegangene; wir haben nichts zu leiden; unsere Beschwerden werden ernst genommen; Vater Staat kümmert sich um uns.
Gab es keine aggressiv-ideologische Stimmung, wie sie etwa die Bilder vom Publikum bei Goebbels berüchtigter Rede im Sportpalast zeigen?
Das war reine Propaganda. Die Menschen in Deutschland waren während des Zweiten Weltkriegs weithin passiv. Sie jagten dem kleinen Vorteil hinterher, frei nach dem Prinzip: Geld ist geil. Mehr wollten die Nationalsozialisten nicht, mehr brauchten sie nicht. Passivität reicht, damit eine totalitäre Diktatur funktioniert.
Aber es gab doch auch Lager, die Gestapo, Denunziationen und Hinrichtungen.
Von den 20.000 zivilen Todesurteilen sind 19.000 nach dem Ende des Jahres 1941 gefällt worden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den militärischen Todesurteilen gegen deutsche Deserteure, also gegen jene Helden, die sich mit ihren individuellen Mitteln gegen diesen Krieg auflehnten. Der für die Masse der Deutschen spürbare innere Terror setzte erst zu dem Zeitpunkt ein, als sich die Aussicht auf einen im Sinne des Volkswohls Gewinn bringenden Sieg zerschlug.
Die Nazis kannten ihr Volk?
Ja, sie gehörten dazu. Ihre Politik war geprägt von den eigenen Traumata am Ende des Ersten Weltkriegs. Der innere Zusammenbruch fand 1918 statt, weil die Reichsleitung, die damals noch aus dem Adel und bestenfalls aus der Großbourgeoisie stammte, nicht in der Lage war, die Not des industriellen Proletariats zu erkennen. Ganz anders im Zweiten Weltkrieg: Die Frauen erhielten doppelt so hohe Versorgungssätze wie die Frauen britischer und US-amerikanischer Soldaten; die Inflation wurde unterdrückt beziehungsweise ins besetzte Ausland verlagert. Sozialgeschichtlich gesehen verfügten die deutschen Frauen nie zuvor über so viel Geld; der Ehemann war an der Front, konnte den Inhalt der Lohntüte weder versaufen noch verspielen noch sich herrschsüchtig-kleinlich in die häusliche Ausgabenpolitik einmischen. Die Volksgenossinnen empfanden das als Befreiung und dankten es ihrem Führer.
Gab es einen Zusammenhang zwischen den Sozialleistungen des Regimes und seinen Verbrechen?
Das Prinzip war ganz einfach. Das Vermögen der Juden wurde verwertet, also verkauft, und wanderte dann in den deutschen Kriegshaushalt. Die besetzten Länder mussten ja ungeheure Kontributionen leisten, mindestens das Doppelte, am Ende oft das Dreifache des letzten Friedenshaushaltes. Einen Teil dieser Summen konnten die nationalen Behörden der unterworfenen Staaten mit Hilfe der Arisierung, Romanisierung, Magyarisierung oder Hellenisierung des Eigentums der Staatsangehörigen jüdischen Glaubens gegenfinanzieren und so den Inflationsdruck lindern. Die Deutschen Finanzexperten von der Reichsbank boten das regelrecht an. Da alle deutschen Soldaten mit dem Geld der besetzten Länder bezahlt wurden, ebenso alle Lebensmittel, Kleidungsstücke, Wolldecken, medizinischen Geräte, die von dort ins Reich geliefert wurden, steckte in all diesen Zahlungen immer auch der Gegenwert dessen, was den Juden überall in Europa weggenommen, verkauft und dann in Geldform in den Besatzungskostenhaushalt geleitet worden war.
War das den Menschen bewusst?
Einigen schon. Das Problem liegt anders und einfacher: Was man nicht genau wissen will, verdrängt man leicht, zumal wenn einem das Unschöne oder eben Verbrecherische nützt. Dazu gehört nicht viel, zumal im Krieg. Und der Holocaust geschah eben zum Vorteil aller Deutschen.
Meinen Sie wirklich, der Holocaust hat seine Ursache darin, dass Hitler seinen Volksgenossen im Krieg keine Härten zumuten wollte?
Man versteht den Holocaust nicht, wenn man ihn nicht als den größten Massenraubmord der modernen Geschichte begreift. Es ging vom ersten Tag an um Geld. Im Übrigen ist der Begriff Arisierung mit den Begriffen Nationalisierung und Sozialisierung eng verwandt. Im Sommer 1942 wurde die Vernichtungspolitik radikal beschleunigt, als es galt, verschiedene Versorgungslücken und auch finanzielle Engpässe in den besetzten Ländern zu schließen oder wenigstens nicht anwachsen zu lassen.
Versuchen Sie damit nicht, den Holocaust zu rationalisieren?
Ich sage, dass es für den Mord an den europäischen Juden eine Reihe von herrschaftsrationalen Gründen gab. Der Holocaust hat zum Funktionieren des deutschen Alltags im Nationalsozialismus beigetragen.
Warum wurde das 60 Jahre kaum erforscht?
In Deutschland geschah das aus Gründen der Staatsräson. Das gilt auch für mich, ich arbeite seit bald 25 Jahren zu solchen Fragen. Sowohl die Verantwortlichen in der BRD als auch in der DDR versuchten jahrzehntelang, die Spuren des nationalsozialistischen Großraubes so gut wie möglich zu verwischen. Hier wie dort vernichteten die Regierungen systematisch Unterlagen über die Kriegsfinanzierung. Die Akten des Reichsfinanzministeriums wurden noch Jahrzehnte später gesäubert. Und werden vielleicht noch heute gesäubert. Bis heute sind diese Unterlagen – soweit sie ins Bundesarchiv gelangten – nicht einmal ordentlich verzeichnet. Dahinter steht die Angst, den Zweiten Weltkrieg tatsächlich bezahlen zu müssen. Wollten wir das wirklich versuchen, wie manche Moraljournalisten und -politiker leichtfertig fordern, müssten wir sämtliche Einkommen und Renten in Deutschland halbieren. Auch die heutige Regierung vertritt das Volkswohl. Das notwendige deutsche Desinteresse ist aber nur die eine Seite. Auch die überlebenden Opfer sind nicht an allzu nahe liegenden, scheinbar banalen Erklärungen interessiert. Hier kommt etwas zusammen, was nicht zusammengehört, aber in dieselbe Richtung wirkt.
Verschiebt sich aktuell die Wahrnehmung des Nationalsozialismus mit Filmen wie „Der Untergang“ und zahlreichen personenfixierten Dokumentationen sogar in die entgegengesetzte Richtung? Der Nationalsozialismus als Geschichte von Verführern und damit von Verführten statt von Korrumpierten?
Ja. Zum Korrumpieren gehören bekanntlich zwei. Einer, der es tut, und einer, der es gerne mit sich machen lässt. Das Funktionieren des Nationalsozialismus und seine relative innere Stabilität erklären sich nicht aus Hitlers angeblichem, quellenfern neulich von Hans-Ulrich Wehler wieder aufgewärmtem Charisma, sondern aus der Massenkorruption. Die Deutschen ließen sich auf Kosten anderer Völker und um den Preis millionenfacher Morde bestechen. Wenn man die Gründe für Auschwitz wirklich verstehen will, soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie „Flick“, „Krupp“ oder „Deutsche Bank“ zu operieren.
Das verstellt nur den Blick?
Ja. Wichtig sind andere Fragen: Mit welchen materiellen Stimuli wurden die Deutschen bei Laune gehalten? Woher kam das Geld, das es ihnen en masse ermöglichte, ohne direkte Kriegssteuern, bei 15-prozentiger Rentenerhöhung im Herbst 1941, bei gleichzeitiger Verdopplung der sozialen Transferleistungen für Familien zum selben Zeitpunkt einen zunächst sehr gemütlichen Raubkrieg zu führen? Die Steuerfreiheit für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen seit Dezember 1940 und die Lebensmittelzuteilung für Otto und Erna Normalverbraucher im Zweiten Weltkrieg führt sehr viel näher an die verbrecherische Dynamik des nationalen Sozialismus als die Untersuchung der Lebensversicherungspolicen von „Allianz“ oder „Generali“. Die Massenzustimmung wurde mit Mitteln der Umverteilungspolitik erreicht: mit sozialer Wärme. Die belohnen die Deutschen, wie wir wissen, gerne. Damals ging sie zu Lasten anderer Völker. Heute geht sie über die Verschuldung zur Lasten der nächsten Generationen.
Die Konjunktur des Sozialstaates war in Deutschland mit dem Nationalsozialismus nicht vorbei.
Die personellen und die gesetzlichen Kontinuitäten sind unendlich. Das geht bis in die Wohnungen. Die Plattenbauten, die in Ostberlin in den 50er- und 60er-Jahren gebaut wurden, sind nichts anderes als Albert Speers Massenwohnbau von 1940.
Aber sozialer Fortschritt ist deshalb doch nicht per se nationalsozialistisch?
Natürlich nicht. Ich will nicht die Idee der sozialen Gerechtigkeit diskreditieren. Ich will den Erfolg des Nationalsozialismus erklären.
Trotzdem gefragt: Seit den 1970er-Jahren bezogen die BRD-Regierungen unter Brandt und Schmidt und die DDR unter Honecker ihre Legitimation in hohem Maß aus dem Ausbau von Sozialleistungen und durch Umverteilung. Gibt es hier ähnliche Regierungstechniken wie im Nationalsozialismus?
Nein, das ginge zu weit. Die bundesrepublikanischen Sozialreformen der 1970er-Jahre folgten dem Prinzip der allgemeinen Teilhabe in Zeiten starken Wirtschaftswachstums. Selbst im Fall der Diktatur DDR ginge der Vergleich zu weit. Natürlich verfügten die östlichen wie die westlichen Industriestaaten über ökonomische Mittel, Teile der Dritten Welt auszubeuten. Aber keine der deutschen und österreichischen Nachkriegsregierungen hatte die Möglichkeit, einen Angriffskrieg zu führen, um sozialpolitische Fragen im Inneren zu regeln. Man könnte böse formulieren, dass die DDR daran gescheitert ist.
Ist die NS-Sozialpolitik also eine Ausnahme in der deutschen Geschichte?
Hinsichtlich der Mittel ja. Doch hinsichtlich der Ziele – soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und gesellschaftliche Aufwärtsmobilisierung im binnennationalen Rahmen – ordnet sich der Nationalsozialismus in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts ein, nicht allein in die deutsche Geschichte.
Der Rückbau von Sozialstaaten hat historisch weniger Vorbilder als sein Aufbau: So etwas wie die Hartz IV hätte Hitler seinen Deutschen niemals zugemutet?
Nein. Honecker hätte es tun müssen, und auch er konnte es der DDR-Bevölkerung nicht zumuten. Das unterscheidet demokratische Regierungen von totalitären. Demokraten können umsteuern. Das geht langsam und kommt vielleicht manchmal zu spät, aber es ist möglich. Der nationalsozialistische Sozialstaat konnte nur expandieren. Er erzeugte ständig die Lust nach mehr. Wenn Hitler im Oktober 1941 gesagt hätte, wir müssen um der Nation willen einen langen Krieg führen, die Familienunterhaltszahlungen, den Sold und die Fleischrationen kürzen, die Steuern anheben und die Sparguthaben in Kriegsanleihen mit 20 Jahren Laufzeit umwandeln, dann hätten die Leute sofort die Gefolgschaft aufgekündigt. Das zu verhindern, war ihm jedes Mittel recht. Hitler wusste genau, Sozialabbau konnte er sich nicht leisten.