: Ein stiller Mann aus Osnabrück
Erst Lagerarzt in Auschwitz, später Oberarzt in Elmshorn: Der Fall Franz Bernhard Lucas ist symptomatisch für den Umgang der Nachkriegs-Justiz mit NS-Verbrechern
von Thorsten Stegemann
Nach dem Krieg führte Doktor med. Franz Bernhard Lucas viele Jahre ein beschauliches Leben als angesehener Mediziner und unbescholtener Bürger. 1943/44 war der in Osnabrück geborene SS-Obersturmführer Lager- und Truppenarzt im Konzentrationslager Auschwitz. Erst 1963 wurde er im so genannten Auschwitz-Prozess angeklagt und wegen Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens 1.000 Fällen zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. In einer Neuverhandlung sprachen ihn die Geschworenen frei. Anschließend konnte er wieder als Arzt arbeiten.
Von 1963 bis ’65 unternahm die deutsche Justiz den bis dahin ambitioniertesten Versuch, nationalsozialistische Verbrechen umfassend aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Rund 20 Jahre nach Kriegsende standen damit die Vollstrecker der Mordbefehle im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Einer von ihnen war Franz Bernhard Lucas. Sein Umgang mit der eigenen Vergangenheit steht stellvertretend für das Verhalten vieler anderer Täter, die den – leider oft erfolgreichen – Versuch unternahmen, sich durch Verschweigen und Vertuschen aus der Verantwortung zu stehlen.
Franz Lucas wurde am 15. September 1911 als Sohn eines Schlachtermeisters in Osnabrück geboren. Er besuchte das Gymnasium Carolinum und wechselte später auf das Gymnasium in Meppen, wo sein Onkel als Schulrat tätig war. Hier bestand Lucas 1933 das Abitur. Sein Medizinstudium schloss er 1942 in Danzig ab. Noch im gleichen Jahr wurde er zum Doktor der Medizin promoviert.
Schon 1933 war Franz Lucas der SA beigetreten, fand den „Geist vieler Angehöriger der SA-Studentenstürme in Münster“ nach eigenem Bekunden aber „alles andere als ideal“. 1937 wurde er deshalb Mitglied der SS und nach der Promotion schnell zum Hauptscharführer, Untersturmführer und Obersturmführer befördert. Wegen „defaitistischer Äußerungen“ musste Lucas kurzfristig in einer Bewährungseinheit dienen. Im Dezember 1943 kam er nach Auschwitz und war hier als Lagerarzt in Birkenau und als Truppenarzt im Stammlager tätig. Einige Monate später führte ihn seine KZ-Karriere nach Mauthausen, anschließend ging es nach Stutthof, Ravensbrück und Sachsenhausen, von wo er kurz vor Kriegsende floh.
Als das Tausendjährige Reich zusammenbrach, wartete auf Lucas kein Entnazifizierungsverfahren, sondern eine Arbeitsstelle im Stadtkrankenhaus Elmshorn. Er wurde Assistenzarzt, dann Oberarzt und schließlich Leiter der geburtshilflichen-gynäkologischen Abteilung. Nach Bekanntwerden der gegen ihn erhobenen Vorwürfe verlor er seine Anstellung und arbeitete in einer Privatpraxis. Sein Nettoverdienst belief sich nach eigenen Angaben auf 30.000 Mark im Jahr, außerdem besaß er gemeinsam mit seiner Frau ein Einfamilienhaus im Wert von rund 80.000 Mark.
Während des Auschwitz-Prozesses, den Lucas zum geringen Teil in Untersuchungshaft verbrachte, leugnete er zunächst strikt, an der Rampe des Konzentrationslagers die berüchtigten Selektionen durchgeführt zu haben, in deren Verlauf die neu ankommenden Häftlinge entweder zum Arbeitsdienst bestimmt oder direkt in die Gaskammern geschickt wurden. Er bestritt außerdem, den Männern des Vergasungskommandos anschließend das Zeichen zum Einschütten des Zyklon B gegeben und die Ermordung der wehrlosen Opfer überwacht zu haben.
Die Zeugenaussagen deuteten in eine andere Richtung, wie in der Urteilsbegründung nachzulesen ist: „Ferner hat auch der Zeuge Dow K. den Angeklagten Dr. L. wiederholt beim Rampendienst gesehen. Er hat beobachtet, dass Dr. L. auch selektiert hat. (…) Er hat ihn als einen gemütlichen, väterlichen Mann geschildert, der bedächtig und mit langsamen Bewegungen auf der Rampe selektiert habe im Gegensatz zu Dr. Mengele, der dies mit eleganten und schnellen Bewegungen gemacht habe.“
Als die Beweislast erdrückend wurde, änderte der Angeklagte die Strategie. Zwar habe er vier Selektionen persönlich vorgenommen, dabei aber gegen seine Überzeugung und nur auf Anweisung der befehlshabenden Vorgesetzten gehandelt. Über seine Gewissenskonflikte und die Vorgänge in Auschwitz sprach Lucas nach eigener Aussage mehrfach mit dem Osnabrücker Bischof Hermann Wilhelm Berning. Dieser bedauerte angeblich, „dass eine praktische Hilfe etwa in Form von Obstruktion oder dergl. unmöglich sei, und riet mir in meinem eigenen Interesse, mich den gegebenen Befehlen zu fügen, um nicht selbst das Opfer einer rigorosen Justiz oder gar einer Liquidation ohne förmliches Verfahren zu werden.“
Da Franz Lucas auf mehrere Zeugenaussagen verweisen konnte, die sein sonstiges Verhalten im Lager als vergleichsweise anständig und bisweilen sogar als hilfsbereit bewerteten, beließ es das Schwurgericht bei einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren. Am 26. März 1968 wurde Lucas, der als einziger Angeklagter an der Ortsbesichtigung in Auschwitz teilgenommen hatte, aus der Haft entlassen, ein knappes Jahr später hob der Bundesgerichtshof das gesamte Urteil auf. In einer Neuverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt am Main plädierte nicht einmal mehr die Staatsanwaltschaft für eine Verurteilung des Angeklagten. Am 8. Oktober 1970 wurde er freigesprochen. Lucas sei zwar „an der Vernichtung von Menschen beteiligt“ gewesen, habe aber „nicht mit Täter-, sondern nur mit Gehilfenwillen“ gehandelt, hieß es unter Berufung auf den so genannten Putativ-Notstand nach Paragraf 52 des Strafgesetzbuches. Ihn könne deshalb „kein Schuldvorwurf im strafrechtlichen Sinne“ treffen.
Werner Renz hat als Mitarbeiter des renommierten Fritz Bauer Instituts eine umfassende Dokumentation des Auschwitz-Prozesses erarbeitet. Nach seiner Einschätzung ist der Fall Lucas symptomatisch für den juristischen Umgang mit NS-Verbrechern in der Bundesrepublik, sofern sie überhaupt jemals vor Gericht gestellt wurden. Die meisten Täter kehrten ohne größere Umstände in ihr angestammtes Lebensumfeld zurück. Wenn sich jemand vor Gericht verantworten musste, vergingen bis dahin Jahre oder Jahrzehnte, und die verhängten Strafen standen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in keinem Verhältnis zu den begangenen Verbrechen. „Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich ein Großteil der Bevölkerung mit dieser Nicht- Aufarbeitung identifizierte“, meint Werner Renz. „Auch während des Auschwitz-Prozesses schrieben viele Bürger empörte Briefe an die Staatsanwaltschaft. Sie fanden es skandalös, dass so honorige und anständige Männer vor Gericht erscheinen mussten.“
Für Franz Lucas war dieses unangenehme Kapitel im Oktober 1970 abgeschlossen. Bis zum 30. September 1983 arbeitete er wieder als Privatarzt. Er starb am 7. Dezember 1994.