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Archiv-Artikel

Was hat Multikulti damit zu tun?

Reicht Gesetzestreue? Oder brauchen wir Unterwerfung unter eine Leitkultur? In der gegenwärtigen Debatte um Parallelgesellschaften werden verschiedene Modelle der Integration gern durcheinander geworfen. Law-and-Order-Politik könnte sich dabei sogar als liberaler erweisen

Starke Integration verstaatlicht die Gesellschaft, statt den Staat zu verschlanken

VON NIELS WERBER

In der Integrationsdebatte beruft man sich pausenlos aufs Grundgesetz. Im „Rahmen des Grundgesetzes“, so fordert Hessens Ministerpräsident Roland Koch, soll die Integration der Einwanderer und ihrer Nachkommen stattfinden, um zu verhindern, dass aus Deutschland eine „Gesellschaft ohne verbindende und verbindliche Werte“ werde. Und anlässlich der Eröffnung der Muslimischen Akademie in Berlin bekennt der Festredner Muhammad Kalisch, das Grundgesetz widerspreche nicht dem muslimischen Glauben. Vom Grundgesetz sprechen dann weder Koch noch Kalisch, wohl aber sprechen sie von Werten. Für Koch besteht der „Rahmen“ des Grundgesetzes aus bestimmten „Grundwerten“, die „Deutschland“ ausmachen. Dazu gehören „Weltoffenheit, Toleranz und Freiheitsliebe“ oder auch „Solidarität und die Gleichheit von Mann und Frau“. Dieses Wertfundament des Grundgesetzes nennt die CDU „Leitkultur“, die folglich allein schon aus Gründen des Verfassungsschutzes „multikultureller Beliebigkeit“ nicht geopfert werden dürfe.

Zwischen gemeinsamen Grundwerten und dem deutschen Grundgesetz besteht indes ein großer Unterschied: Erstens sind im Fall zentraler Artikel Grundrechtsträger ausdrücklich nur deutsche Staatsbürger und nicht Ausländer, sie betreffen „alle Deutschen“, Nichtdeutsche jedoch nicht. Diese Rechte lassen sich nicht teilen. Zweitens ist eine Wertegemeinschaft für Gesetzestreue unnötig, denn um ein Gesetz zu befolgen, ist es völlig unerheblich, ob man ihm womöglich zugrunde liegende Werte teilt: Die Befolgung von Gesetzen kann erzwungen werden, das Teilen von Werten jedoch nicht. Der Leitantrag der CDU geht weit über das hinaus, was der Staat von jedem, den seine Gesetze schützen, verlangen kann: nämlich Gesetzestreue. Integration zielt für die CDU nicht auf die Inklusion der Migranten in den Rechtsstaat, sondern auf ihre Assimilation in die deutsche Gesellschaft und ihre Kultur. Hier werden zwei völlig unterschiedliche Modelle der Integration verhandelt, die man mit Michel Foucault als das staatliche und gouvernementale Modell bezeichnen könnte.

Foucault hat in seiner Geschichte der Gouvernementalität den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft herausgearbeitet als Differenz zwischen rechtlich codierter Macht über ein Staatsvolk und biopolitischer Disziplinierung der Bevölkerung. Staatsbürger sind Rechtssubjekte, die der Staat schützt; dafür verlangt er Gehorsam. Für alles weitere interessiert sich der Staat nicht. Dass seine Bürger wirtschaften, forschen, glauben, lieben, erziehen oder sich kleiden, ist ihm gleichgültig, solange sie keine Gesetze brechen.

Nicht jedoch der Gouvernementalität. Ihr Objekt ist nicht das Volk, sondern die Bevölkerung, nicht das Rechtssubjekt, sondern der Mensch. Ihre Machttechniken gehen über den Herrschaftsbereich des Staates weit hinaus und zielen auf die gesamte Gesellschaft von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft, von der Familie bis zur Religion. Die Bevölkerung, ihr Wohnraum, ihr Verkehr, ihr Konsum, ihr Wachstum, ihre Arbeitskraft wird zum „Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen“ (Foucault).

In dieses Feld gehört eine Integration, die jeden Aspekt des Lebens der Migranten erfasst, etwa auch den, in welcher Sprache, von wem, wo Religion gelehrt wird. Die Berufung aufs Grundgesetz führt in die Irre, da Leitkultur und Werte keine Gesetze sind, sondern Effekte der Gouvernementalität. Folgt man Foucaults Unterscheidung, muss man überrascht feststellen, dass die CDU mit ihrem Integrationskonzept einen modernen, postsouveränen Machttyp vertritt.

Integration im Raum des Staates wäre dagegen eine altmodische Variante, deren Vorzug ihre Liberalität wäre. Sie würde die Migranten tun lassen, was sie wollen, sofern sie nicht Recht brechen. Als Rechtssubjekte würden sie auf der rechten Seite der Straße fahren, der Meldepflicht genügen oder Steuern zahlen. Um diese Regeln zu befolgen, benötigt man keine „Werteordnung“, wie die CDU unterstellt, auch keine Einbürgerungsfeiern, wie auch manche Grüne meinen, erst recht keine Toleranz, sondern nur Sinn für die Rechtswirklichkeit. Wenn Migranten gegen geltendes Recht verstoßen, dann werden Polizei und Gerichte tätig. Wenn nicht, dann nicht. Muslimen ist das Schächten unbetäubter Tiere erlaubt, bon appétit. Die Beschneidung von Mädchen, die Zwangsverheiratung junger Frauen, die Gründung von terroristischen Vereinigungen, Kinderarbeit, Zigarettenhandel oder Kebabbuden ohne Gewerbeschein verstoßen dagegen gegen geltendes Recht. Jeder, der sich derart strafbar macht, wird entsprechend belangt. In US-amerikanischer und britischer Tradition würde man vom Rule of Law sprechen.

Integration in diesem Sinn hat mit Werten, Leitkultur oder Patriotismus nichts zu tun, auch nichts mit „Multikulti“. Und zwar deswegen, weil der Rechtsstaat Personen nicht aufgrund von Werten und Lebensweisen anklagt und verurteilt, sondern ausschließlich aufgrund von Gesetzen. Wenn jemand betont, die deutsche Rechtsordnung stehe dem muslimischen Glauben nicht im Wege, dann ist dies kein Bekenntnis zur Integration in die deutsche Gesellschaft, sondern eine Floskel. Denn wer meint, sich außerhalb der Gesetze bewegen zu können, wird von der Staatsgewalt zurück ins Recht gezwungen. Dass Migrationsgruppen es für nötig halten, sich eigens zur Einhaltung deutschen Rechts zu bekennen, und dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit dem so begeistert Applaus spendet, belegt nur, dass dies so selbstverständlich nicht ist und die Rechtswirklichkeit womöglich anders aussieht. Gerade der ehrgeizige politische Wunsch nach erfolgreicher Integration scheint bisweilen zur Nichtverfolgung von Rechtsbrüchen zu führen.

Law and order als Medium der Integration? Das klingt konservativ und nach starkem Staat. Tatsächlich lässt die Herrschaft des Gesetzes den Migrationsgruppen den allergrößten Freiraum für ihre kulturelle Identitätsbildung. Denn kein Gesetz schreibt vor, wie man in einem von weiblichen Gästen unbehelligten kurdischen Verein Domino spielt und Tee trinkt, ob jemand auf der Straße Schleier oder Turban trägt, ob Spätaussiedler untereinander russisch sprechen, ob Muslime den Koran auf Arabisch oder Juden die Thora auf Hebräisch lesen.

Integration hat Niklas Luhmann präzise als „Reduktion von Freiheitsgraden“ definiert. Integration als Gehorsam gegen geltendes Recht ist schwache Integration, welche die Freiheitsgrade innerhalb des rechtlichen Rahmens weit offen hält. Der Schwur von Einwanderern auf die Verfassung der Vereinigten Staaten wäre ein Beispiel für eine solche Integration. Fremdartig wirkende Stadtviertel wie Chinatown gelten als Ergebnis einer erfolgreichen liberalen Integration. Was in der deutschen Debatte als Albtraum der Gettoisierung erscheint, gilt in den USA als Verwirklichung des amerikanischen Traums. Freilich darf kein asiatischer, afrikanischer oder südamerikanischer Migrant beim verfassungsgemäßen pursuit of happiness geltendes Recht verletzen. Ansonsten geht alles, verschleiert oder unverschleiert.

Die CDU plädiert dagegen für eine weitaus höhere Beschränkung von Freiheitsgraden. Kulturell „auffällige“ Migrationsgruppen, die mit ihrer Besonderheit ganze Viertel prägen oder gar „Parallelgesellschaften“ bilden, sollen ihr Anderssein aufgeben. Es genügt nicht zu tun, was das Gesetz erfordert, etwa an deutschen Schulen keine Schleier zu tragen; es geht um die Anpassung des gesamten Lebensstils. Ein „Patriotismus“ der „Einbindung von Migranten“, wie Koch ihn fordert, zielt auf eine Integration, deren Erfolg sich am Straßenbild überprüfen ließe. Wenn Berlin-Neukölln so aussähe wie Berlin-Grunewald, dann wäre sie gelungen.

Die Gemeinsamkeit von Werten oder kulturellen Identitäten kann der Staat nicht erzwingen. Das Grundgesetz schützt ja gerade die von der „Leitkultur“ abweichenden Werte ausdrücklich, solange sie nicht zum Rechtsbruch führen. Es schützt die Migranten, ihre eigene Sprache zu pflegen, sich nach Belieben zu kleiden, Gebete störungsfrei zu verrichten oder Minarette zu bauen, von denen der Muezzin-Ruf erschallen darf. Das Läuten der Glocken oder das Bekenntnis zum Atheismus sind genauso geschützt wie Romanpassagen aus den „Satanischen Versen“ oder die Filme van Goghs.

Nicht nur die CDU hat übersehen, dass starke Integration Verstaatlichung der Gesellschaft bedeutet statt Verschlankung des Staates. Sie erfordert einen intervenierenden Staat, der den Migranten ihre Kinder im Vorschulalter entzieht, sie von Beamten erziehen lässt, an Ganztagsschulen assimiliert und ihre Chancen am Arbeitsmarkt optimiert, um die Gesellschaft in eine Wertegemeinschaft zu verwandeln, die sie nie war. Sie „hilft“ den Migranten, aber um den Preis einer hohen Reduktion von Freiheitsgraden.

Wer nun für schwache Integration plädiert, muss sich des Risikos bewusst sein, dass Zehntausende ihr Leben lang in Deutschland so fremd bleiben, dass die einzigen nachhaltigen Kontakte zu Deutschen dem Konflikt mit dem Gesetz entspringen. Das liberale Modell einer Integration im Raum des Staates lässt den Migranten zwar alle kulturellen Freiheiten und ließe ein Klein-Istanbul zu, schlägt aber im Fall von Rechtsbrüchen mit Härte zu. Die von Foucault aufgezeigte Alternative zum gouvernementalen Machttypus ist eben nicht die Freiheit, sondern leider immer nur ein anderer Typ der Macht. Mit ihrer Ausübung geizt das Modell schwacher Integration zwar im Normalfall, indem es die Populationen sich selbst überlässt, straft dann aber Täter, um die sie sich zuvor nicht gekümmert hat.

Das starke Modell gibt dagegen Macht mit vollen Händen aus. Es sucht in der gesamten Gesellschaft Einfluss darauf auszuüben, dass die Migranten nicht häufiger in Konflikt mit dem Recht geraten als Deutsche, indem es beide Gruppen mit dem Ziel ihrer statistischen Ununterscheidbarkeit integriert. Wer wollte dies auch nur wollen?