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Archiv-Artikel

DEUTSCHE LANDSCHAFT Auf vertrautem Boden

Im ihrem Bilderbuch „Deutschland, Deutschland über Alles“ von 1929 kritisieren Kurt Tucholsky und John Heartfield ätzend die deutsche Misere. Im Schlusskapitel aber schlägt Tucholsky einen lyrischen Grundton an. Es geht um Heimat, und für Tucho ist Heimat hier Landschaft, genauer: die deutschen Landschaften. Betrachtet man die von Heartfield ausgewählten Fotos dieses Kapitels, die Berg-, See- und Meerlandschaften, so fällt sofort ins Auge, was fehlt: Menschen. Das ist kein Zufall.

Tucholsky schreibt: „Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts anderes spürt, als daß er zu Hause ist, daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“

Kann man „seine“ Landschaft so menschenleer lieben, etwa nach der Maxime, die Sächsische Schweiz wäre erst wirklich schön, wenn ihre Einwohner umstandslos umgesiedelt würden? Eine solche Liebe wäre zwar wenig human, aber durchaus vorstellbar. Tucholsky, der Internationalist, pfeift auf den Patriotismus. Aber in seiner Liebe zur deutschen Sprache, der Liebe zu den deutschen Landschaften, will er sich von niemandem übertreffen lassen. Er sagt, auch wir, die „Kommunisten, Sozialisten, Freiheitsliebende aller Grade“ sind Deutschland. Aber zwischen diesen „guten“ Deutschen und den Landschaften, die sie bewohnen, stellt Tucholsky keine Verbindung her.

Denn „unsere“ Landschaft ist vor allem eine Privat-Landschaft. Sie nutzt sich nicht ab mit dem vielfachen Gebrauch, ganz anders als die „Stadtlandschaft“, die wir mit einer immer wieder erneuerten Anstrengung mit fremden Augen sehen müssen, um sie dann neu zu entdecken. Jeder Strauch an einem Höhenweg hingegen mag uns bekannt sein, aber nie wird der Spaziergang öde. In der Landschaft wollen wir gerne mit uns allein sein und tagträumen.

Der Philosph Jan Patocka hat die Liebe zur Heimat so definiert: Wir setzen den Fuß auf vertraute Erde und verbinden uns dadurch mit dem Universellen. Wir sperren uns nicht in der Landschaft ein, quasi in einem Verteidigungsakt, sondern „unsere“ Landschaft als Heimat wird uns Brücke zur Welt.

Diese Beziehung von Nähe und Ferne gilt für alle Landschaften. Meine Landschaft zum Beispiel sind die lang gezogenen Hügel der Uckermark. Obwohl sie nicht die Landschaft meiner Jugend sind, obwohl ich dort weder Haus noch Wohnsitz habe, fühle ich mich hier auf vertrautem Boden. Auf dieses Vertrautsein kommt es an und nicht auf unverwechselbare Schönheit. CHRISTIAN SEMLER