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Archiv-Artikel

Parallel-Multikulti

Arm und gleich (II): Zuwanderung ist eine Chance für die Mehrheitsgesellschaft. Um sie zu nutzen, muss man vor allem die Bildungsarmut beseitigen, die beide Gruppen trifft

Ein muslimischer „Zentralrat“ mag nicht zu der Religion passen, aber er ist hierzulande nötig

Übermorgen tritt das neue „Zuwanderungsgesetz“ endlich in Kraft. Damit ändert sich das Aufenthaltsgesetz, das auch Sprach- und Integrationskurse für neu kommende Zuwanderer regelt. Doch auch bereits hier lebende Ausländer können zu diesen Kursen verpflichtet werden, wenn sie Sozialleistungen nicht verlieren wollen. Wie immer man die Details der gesetzlichen Neuregelungen bewertet: damit wird mit Mehrheit politisch anerkannt, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist. Das wurde auch Zeit.

Gelöst sind die Probleme der Zuwanderung damit aber noch lange nicht, da Fehler und Unterlassungen der letzten 40 Jahre durch „nachholende Integration“ nicht von heute auf morgen überwunden werden können. Und Integration kann niemals nur eine einseitige Angelegenheit sein: die Mehrheitsgesellschaft wird sich verändern – ob die Mehrheit das will oder nicht.

Eine weitere Illusion ist: Künftig können wir die Zuwanderung so lenken, dass nur hoch qualifizierte Migranten, die sich um ihre Integration selbst kümmern, kommen. Das Aufenthaltsgesetz wird nichts daran ändern, dass der Integrationsprozess schmerzhaft bleiben wird. Freilich sollten wir aufhören darüber zu lamentieren, denn gesellschaftliche Inklusion statt Exklusion wird in ganz Europa die große Aufgabe der nächsten Jahrzehnte sein. Und dabei geht es nicht nur um Zuwanderer, sondern – wie fast überall in Europa – auch um die einheimischen Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern.

Hilmar Höhn hat am Montag an dieser Stelle zu Recht geschrieben, dass die Gleichheit der Chancen und damit der Würde weit über die Gleichheit von Einkommen und die Vermeidung von Einkommensarmut hinausgeht. Die Frage nach „Arm und gleich“ stellt sich unabhängig vom Zuwandererstatus, aber der im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohe Anteil von Zuwanderern in Deutschland macht Gleichheitsfragen besonders dringlich.

Bei den notwendigen Bemühungen um eine bessere Integration bildungsferner Zuwanderer ist ein Kampfbegriff wie Parallelgesellschaft ebenso wenig hilfreich wie Multikulti-Idealismus. Parallelgesellschaften sind Zuwandererenklaven, in denen eine einzige Zuwanderergruppe zusammenlebt. Die „Little Germanys“ in den USA des 19. Jahrhunderts waren Beispiel dafür, zumal deutsche Hassprediger die USA „eindeutschen“ wollten.

In Deutschland kann man heute weder von derartigen monoethnischen Enklaven sprechen, noch darf man die muslimischen Zuwanderer einfach zu radikalen Fundamentalisten erklären. Eine Sonderstudie des vom DIW Berlin erhobenen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zeigt sogar, dass Muslime im Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft eher mehr denn weniger Vertrauen in die gesellschaftlichen Strukturen Deutschlands haben – also Schule, Polizei und Behörden.

Sicherlich ist der Anteil religiöser Menschen unter Muslimen höher als in anderen Bevölkerungsgruppen, aber das ist ja nicht per se ein Problem. Die christlichen Kirchen wären froh, wenn deutsche Jugendliche mit 20 Prozent ebenso religiös aktiv wären wie Jugendliche mit einem ausländischen Reisepass. Nur ganz wenige davon sind radikal – und unter den 10 Prozent religiös aktiven deutschen Jugendlichen finden sich mit Sicherheit auch etliche intolerante Anhänger von christlich-fundamentalen Gruppen.

Wichtig ist: ein Dialog zwischen Mehrheitsgesellschaft und Zuwanderern zu konkreten Fragen statt abstrakte Phrasen, auf die man sich rasch einigt. Zum konkreten – und damit oft schmerzhaften Dialog – gehört etwa die Akzeptanz von Moscheen auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft und auf Seiten der Zuwanderer zum Beispiel die bislang verweigerte Selbstorganisation eines zentralen Rates der Muslime in Deutschland, der als legitimer Ansprechpartner für Staat und gesellschaftliche Gruppen dient.

Es mag ja sein, dass ein derartiger „Zentralrat“ nicht zur traditionellen Religion und Kultur der Muslime passt, aber westliche Demokratien basieren auf legitimierten zentralen Ansprechpartnern. Integration verlangt der Mehrheitsgesellschaft Veränderungen ab – deswegen dürfen Zuwanderer Veränderungen ihrer Kultur auch nicht verweigern. Ein muslimischer Zentralrat wird anfänglich nicht viel bewirken, langfristig jedoch ohne Zweifel nach innen und nach außen integrierend wirken.

Es ist auch müßig, wie Altbundeskanzler Schmidt darüber zu räsonieren, ob wir vor 40 Jahren die falschen Zuwanderer, nämlich Bauern, geholt haben. Diese Zuwanderung war damals kurzfristig wirtschaftlich nützlich – und an diesem Kalkül wird sich niemals etwas ändern, denn es ist nicht einseitig, sondern basiert auch auf den Interessen der Abwanderer selbst. Jetzt fordert die Wirtschaft zu Recht qualifizierte Zuwanderung, aber dadurch wird der Zustrom wenig Qualifizierter nicht aufhören.

Wenn viele Unqualifizierte im Lande sind, ist es unvermeidlich, dass über den Familiennachzug wiederum bildungsferne Zuwanderer kommen. Und es werden nach wie vor aus wirtschaftlichen Gründen – wenn auch im Moment nur temporär – Jahr für Jahr hunderttausende für nicht qualifizierte Tätigkeiten ins Land geholt oder sie arbeiten illegal hier. Sie kommen als Erntehelfer, aber auch als Schaustellergehilfe und illegal zu tausenden als Haushaltshilfen.

Auch künftig können wir die Zuwanderung nicht so lenken, dass nur hoch qualifizierte Migranten kommen

Hochqualifizierte, die jetzt willkommen sind, kümmern sich erfahrungsgemäß um ihre Integration selbst – und gerade Hochqualifizierte ändern die Mehrheitsgesellschaft im Zuge ihres Integrationswillens. Intellektuelle begrüßen diesen Zuwachs an Pluralität und schmunzeln gar, wenn dann aus Gründen der Political Correctness ausgerechnet US-Präsident Bush statt christlicher Weihnachtskarten in den multikulturellen USA neutrale Grüße mit „Happy Holidays“ versenden muss. Aber bildungsferne Schichten fühlen sich von so etwas eher bedroht. Das kann man nur langfristig ändern.

Um dauerhafte Exklusion zu verhindern, braucht es neben der Integration erwachsener Zuwanderer ein Schulsystem, das Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern halbwegs gleiche Chancen der Bildung und Ausbildung bietet. Damit werden nicht nur den Kindern von Zuwanderern endlich faire Lebenschancen geboten, sondern Deutsche, denen man eine gute schulische Qualifikation ermöglicht, fühlen sich von Zuwanderung auch nicht mehr bedroht. Das belegt eine Vielzahl von Umfragedaten.

So wichtig das Zuwanderungsgesetz also ist – noch wichtiger ist die Reform des Schulsystems und der vorschulischen Erziehung. Ohne Reformzumutungen und mehr Geld für diesen Bereich wird sich nicht viel ändern. Selbst Maßnahmen wie eine zweijährige Kindergartenpflicht sollten nicht ausgeschlossen werden. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern würden enorm profitieren, denn praktisch alle Kinder von gut gebildeten Eltern besuchen bereits jetzt eine Vorschuleinrichtung.

GERT G. WAGNER